Image

Auf vielfachen Wunsch hielt Albert Sting diesen Vortrag im Jahr 2013 wieder. Die allermeisten Teile des Texts hatte er 1988 als Beitrag zur Gedenkveranstaltung für die Zerstörung der Ludwigsburger Synagoge erarbeitet – mit 50 Jahren Abstand und noch zahlreichen Zeitzeug*innen, die als Publikum erreicht werden konnten.

Albert Sting: Aus der Geschichte der Ludwigsburger Juden

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
nichts kann das Schreckliche des Datums, an das wir heute denken, verringern. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, aber dem, der sich mit diesen Ereignissen beschäftigt, ergibt sich erst aus solcher Distanz ein einigermaßen zutreffendes Bild.
Schweren Verlust bedeutet es, diese jüdischen Bürger, die so bedeutsam für die Stadt waren, nicht mehr unter uns zu haben. Trauer befällt uns im Darandenken. In einem Gedenken, das erlaubt, ein Stückweit Wut und Zorn, Anklage und Selbstanklage, Scham und Verstummen hinter sich zu lassen und Antwort zu suchen auf die Frage: Wie war es denn tatsächlich? Wie war der Gang der Geschichte dieser Stadt mit ihren Juden und dieser Juden mit ihrer Stadt?
Lasst mich erzählen und berichten wie ein Trauernder, der nicht müde wird, die gemeinsamen Stunden und Erfahrungen, die freudevollen und notvollen Abschnitte des Miteinanders auszutauschen unter den Betroffenen, unter den Freunden und den Hinzugekommenen, um dem Schrecken seine lähmende Gewalt zu nehmen und aus der Trauerarbeit Zukunft zu gewinnen.


Württembergische Geschichte: Jüdisches Leben in Württemberg ab dem 11. Jahrhundert, Verfolgung von Juden im 13. und 14. Jahrhundert.


Das Verständnis für die Geschichte der Juden in Ludwigsburg lässt sich nicht allein aus der Betrachtung der Ereignisse in unserer Stadt hier zutreffend gewinnen, es müssen vielmehr auch die Vorgänge, die ganz Württemberg betrafen oder von dort ausgingen, mit erwähnt werden. Wir wollen darum ein Stückweit zurückblicken.
Die ältesten Zeugnisse jüdischer Ansiedlung in unserem Land weisen in Heilbronn und in Schwäbisch Hall auf das 11. Jahrhundert. Vom 13. zum 14. Jahrhundert sind Mitteilungen vorhanden, die berichten, dass Juden vor allem in den Reichsstädten und dort meist in recht günstigen Verhältnissen lebten. Aber schon 1298 und noch einmal knapp 40 Jahre später, 1335/1337 kam es zu blutigen Verfolgungen. Auch für die furchtbare Pestepidemie von 1348 auf 1349 wurden die Juden verantwortlich gemacht und hart bedrängt.
Heute wissen wir, dass sich der Zorn der Masse und die angeblich Genugtuung heischenden Aggressionen auf die Minderheiten werfen, die von der Gesellschaft freigegeben und dafür angeboten werden. Für das Gebiet des Herzogtums Württemberg wurde das Datum vom 14. Juni 1498 wichtig. In der damals beschlossenen Regimentsordnung als einer Art erster Verfassung des Landes, wurde unter anderem die Ausschließung der Juden festgestellt. Damit war bestimmt, dass sich kein Jude im Herzogtum aufhalten durfte. 1530 erneuerte Kaiser Karl V. die Ausschließungsbestimmungen, die dann Herzog Ulrich seinerseits wieder übernahm.
1

Absolutistische Herrscher ab dem 18. Jahrhundert beschäftigen jüdische Fachleute vor allem für ihre Finanzwirtschaft – prominentestes Beispiel: Josef Süß Oppenheimer in Ludwigsburg

Der absolutistische Fürst späterer Zeit jedoch verstand sich selbst nicht an die Gesetze des Landes und an seine Ordnungen gebunden. So findet man zahlreiche jüdische Hoffaktoren im Dienst Herzog Eberhard Ludwigs, des Gründers der Stadt. Einige von ihnen erhielten die Erlaubnis, in den Residenzstädten Stuttgart und Ludwigsburg Wohnung zu nehmen.
Hoffaktoren waren meist jüdische Finanzleute, die in der Zeit des Absolutismus an Fürstenhöfen entscheidend zur Ausbildung des modernen Finanzwesens und damit auch des Merkantilismus beitrugen. Sie traten als Geldgeber für Luxusgüter, Heereslieferungen, auch im Münzwesen und dergleichen auf. Sie wurden auf diese Weise oft zu engen Vertrauten der Fürsten. Nicht selten waren solche Hofjuden bald mit ihrem Rat und ihrer Tat nahezu unentbehrlich. Andererseits aber banden die Hoffaktoren ihr Schicksal an das ihrer Herren, mit denen sie zu Reichtum und Einfluss aufstiegen und mit denen, oder von ihnen fallen gelassen, sie unter Verlust von Hab und Gut, ja ihres Lebens abstürzen konnten.
2
Der am meisten bekannt gewordene Hoffaktor überhaupt ist Joseph Süß Oppenheimer. Diesem klugen, gewandten und welterfahrenen Mann, der Frankfurt, Amsterdam, Wien und Prag kennengelernt hatte, begegnete Prinz Carl Alexander im Jahr 1732 bei einer Kur in Wildbad. Damals konnte Carl Alexander noch nicht wissen, dass er ein Jahr später schon Herzog von Württemberg werden würde. Beide Männer fassten rasch Vertrauen zueinander und fanden sich bald im gemeinsamen Interesse an Geld und Einfluss verbunden. Als Carl Alexander dann (1733) die Nachfolge des Herzogs Eberhard Ludwig angetreten hatte, erfüllte sich die Vermutung, dass Oppenheimer ein idealer Finanzmann sei. Ein Jahr später zog Süß Oppenheimer nach Stuttgart und erwarb auch in Ludwigsburg zwei Häuser, am Kaffeeberg eines und in der heutigen Mömpelgardstraße ein anderes.
Die Unterstützung des finanzbegabten Süß Oppenheimers war nötig, um den Plänen des Herzogs zur Errichtung eines stehenden Heeres näherzukommen. Damit begann die Geschichte Ludwigsburgs als Garnisonsstadt. Zur Finanzierung des Hofstaates brauchte der Herzog Süß Oppenheimer ebenso, wie zur Errichtung von Manufakturen, die wiederum Geld abwerfen sollten. Es wurde die Flormanufaktur von Eberhard Huber, die Seidenmanufaktur von Johann Ludwig Reuß eingerichtet, die jedoch bald der finanziellen Unterstützung bedurften. Eine Tabakmanufaktur wurde an Kurpfälzische Schutz-Juden auf zwölf Jahre ab 1736 verpachtet. Sechs jüdische Familien zogen im Gefolge davon nach Ludwigsburg. Ihnen durfte nichts in den Weg gelegt werden.
3 Sie hatten das absolute Monopol für Tabakwaren. Es galt: Jedermann ist „von Zivil- oder Militärstande bei Strafe verboten, Tabak vom Ausland zu beziehen, er sei geschenkt, gekauft, getauscht oder gefunden.“4
Süß Oppenheimer betrieb ein Kaffeehaus und gründete im Auftrag des Herzogs die erste Ludwigsburger Porzellanmanufaktur. Diese Manufakturen waren gedacht als wirtschaftlicher Ersatz an Ludwigsburg nach Abzug der Residenz. So hat Süß Oppenheimer, so problematisch seine Gestalt auch gewesen sein mag, in den knapp drei Jahren seines Wirkens mancherlei zum wirtschaftlichen Vorteil der Stadt Ludwigsburg unternommen. Allerdings waren diese Maßnahmen nur von geringem Bestand.
Nicht allgemein bekannt ist, dass Süß Oppenheimer nie die Grenze der Legalität überschritt. Auch in seinem Prozess konnten ihm Rechtsbrüche nicht schlüssig nachgewiesen werden. Freilich hatte der Herzog seinem Geheimen Finanzrat große Rechte eingeräumt und ihn stets unterstützt.
Süß Oppenheimer stürzte nach dem plötzlichen Tod seines Herzogs Carl Alexander am 13. März 1737 ins tiefste Unglück. Die volle Flut des Volkszornes ergoss sich auf den allein Übriggebliebenen. Bekannt aber ist das Wort des Herzog-Administrators Karl Rudolf, als er nach langem Zögern das Todesurteil doch unterschrieb: „Das ist ein seltenes Ereignuß, daß ein Jud für Christenschelmen die Zeche bezahlt.“
5
Süß Oppenheimer war ein assimilierter Jude gewesen. Er hatte Brauch und Tracht derer übernommen, in deren Gesellschaft er verkehrte und Anerkennung suchte. Er wollte mit anderen Juden wenig zu tun haben. Es ist daher nicht richtig, zu sagen, mit ihm habe sich ein Strom von Juden in das Herzogtum ergossen.

Ab dem 18. Jahrhundert können Juden sich Aufenthaltsrecht kaufen – die Herrscherinnen und Herrscher machen Kasse.

In Gebieten, die nicht zum Herzogtum Württemberg gehörten, gab es das Schutzjudentum. Juden mussten dafür, dass sie in einem Territorium geduldet wurden, also eines gewissen Schutzes sicher sein durften, oft nicht geringe Geldbeträge und Naturalien an den Herren des entsprechenden Gebietes abführen. Diese Schutzgelder waren stets billig und leicht gewonnene Einkünfte, da der jeweilige Herr nicht wesentlich anders mit den Juden umzugehen hatte, als mit all seinen sonstigen Untertanen. Solcher Schutz war kündbar, er konnte auch mit seinem Einkommen vererbt, verschenkt oder gar verpfändet werden. Schutzjuden gab es zwar nicht in Ludwigsburg selbst, doch in der näheren Umgebung.

Jüdische Gemeinde in Aldingen ab 1774 – Vorläuferin der späteren jüdischen Gemeinde in Ludwigsburg

Die Herren von Kaltental hatten als Dorfherrschaft von Aldingen „in der ersten Hätte des 18. Jahrhunderts Juden die Ansiedlung ermöglicht.“6 Herzog Karl Eugen von Württemberg übernahm 1750 mit dem heimfallenden Lehen Aldingen auch die jüdische Gemeinde und bestätigte deren Rechte.
„Die Freiherren von Gemmingen siedelten in dem reichsritterschaftlichen Ort Hochberg um 1750 gegen eine Aufnahmegebühr und ein jährliches Schutzgeld die ersten jüdischen Familien an“. Im Jahr 1774 wurde dort eine jüdische Gemeinde begründet. „1779 erwarb Herzog Friedrich Eugen von Württemberg die Herrschaft“ über den Ort, verkaufte aber zwei Jahre später diesen Besitz „an seinen Bruder, den regierenden Herzog Karl Eugen, der sie dem herzoglichen Hofkammergut (also seinem persönlichen Besitz) einverleibte“.
7
Auf diese Weise war der Erfordernis nach Ausschließung der Juden aus dem Herzogtum Württemberg Rechnung getragen. Es lebten aber in unserer Gegend Juden auf privaten Besitztümern und im persönlichen Dienst des Herzogs als Hoffaktoren. So blieb im Prinzip die Ausschließung bis 1806 in Kraft, worauf die Landstände sorgfältig achteten.
Aldingen ist die Muttergemeinde der israelitischen Gemeinde in Ludwigsburg geworden. 1806 zählte man dort neun jüdische Familien mit 32 Mitgliedern. Die jüdische Bevölkerung vermehrte sich dann rasch, 1852 erreichte sie 122 Seelen, um danach jedoch wieder abzunehmen. In Aldingen gab es eine Synagoge, ein Frauenbad und eine Schule
8 Die meisten Aldinger Juden, auch solche aus Hochdorf und Freudental, zogen im Laufe der Zeit in die naheliegende, aufstrebende Residenzstadt und vergrößerten dort die Gemeinde entsprechend.
1832 wurde die israelitische Religionsgemeinde Ludwigsburg zur Filiale der Synagogengemeinde Aldingen erklärt. 54 Jahre später (1886) aber lebte kein einziger Jude mehr in Aldingen. Zur Zeit ihrer Gründung hatte die Filialgemeinde Ludwigsburg etwa 70 Mitglieder.
Diesem Stand der Entwicklung war die Diskussion vorausgegangen, ob die Ludwigsburger Juden die Gottesdienste in Aldingen besuchen oder die Aldinger Juden an den Gottesdiensten in Ludwigsburg teilnehmen und sie damit die jeweilige Gemeinde stärken könnten. Doch die Entfernung war größer, als sie am Sabbat zurückgelegt werden durfte
9. So konnten beide sich nicht besuchen, es sei denn, die Frommen wären von Freitag auf Samstag über Nacht geblieben.
Wie waren die Verhältnisse zu Anfang des 19. Jahrhunderts? Im damaligen Württemberg lebten unberührt vom Gesetz der Ausschließung 534 jüdische Menschen, wie schon gesagt, als Hoffaktoren und in nichtkorporierten Gebieten. Als Herzog Friedrich II. 1803 die Würde eines Kurfürsten erlangt hatte, fügte die damit verbundene Gebietsvergrößerung etwa 120.000 neue Untertanen zu denen des alten Herzogstums hinzu. Unter diesen waren damals allerdings nur wenige Juden. „Erst die späteren Gebietserweiterungen vom Preßburger Frieden am 26. Dezember 1805 bis zum Jahr 1810 brachten Juden in größerer Zahl mit den als Neuwürttemberg bezeichneten Gebieten an das Land. Sie wird mit 7.000 Seelen angegeben. Die Gesamteinwohnerzahl Württembergs war von 650.000 im Herzogtume auf 1.400.000 im Jahr 1810 gestiegen“.
10 Die relative Zahl der Juden in Württemberg betrug demnach 0,5 Prozent.

1806 bis 1924 – lange Auseinandersetzungen bis zur rechtlichen Gleichstellung von Juden mit anderen Württembergern

Am 1. Januar 1806 verkündigte Kurfürst Friedrich die Annahme der Königswürde. Er hatte kurz vorher die ständische Verfassung für aufgehoben erklärt. Der neue König gab am 10. Juni 1806 der Oberlandesregierung den Auftrag, eine die Verhältnisse der Juden in den genannten königlichen Staaten umfassende Ordnung zu entwerfen. Zwei Jahre später konnte der Entwurf einer „Ordnung für die Juden in den Kgl. Staaten“ vorlegt werden. Der erste Artikel dieses Entwurfes lautete: Jeder zur jüdischen Religion sich bekennende Einwohner unseres Königreiches hat der Regel nach gleiche Rechte und Verbindlichkeiten wie die christlichen Einwohner desselben, und ist, insofern nicht die gegenwärtige Verordnung eine Ausnahme festsetzt, denselben Gesetzen wie diese unterworfen.11
Dieser Entwurf, der im erwähnten Artikel recht positiv klingt, wurde aber von dem aufgeklärten König nicht genehmigt, weil in ihm zu viel Intoleranz bekundet sei. Mit Einzelverordnungen suchte die Regierung dann anstehende Fragen vorläufig zu klären. Da aber beispielsweise über Schulen und Schulpflicht nichts ausgesagt war, wuchsen die jüdischen Kinder recht wild daher und das Bildungsgefälle gegenüber den anderen Einwohnern im Lande war nicht zu übersehen. Im Jahr 1816 starb der König.
1819 wurde die neue Verfassung unter König Wilhelm I. beschlossen; aber sie erwähnt die Sache der Juden nicht. Insgesamt war diese Verfassung für die Juden ungünstiger als der abgelehnte Entwurf von 1808. So war nun die Regierung wegen ihrer Verantwortung für alle Bürger gezwungen, für die jüdischen Untertanen etwas Geeignetes zu unternehmen. Ein entsprechender Antrag wird 1820 in den beiden Kammern eingebracht. Darin wird die Frage untersucht, welcher Rechte die Juden im allgemeinen für fähig zu erklären seien. Eine Kommission wird gebildet aus Vertretern des evangelischen Consistoriums, des katholischen Kirchenrates, des königlichen Obertribunals, der Regierung und der Kammer der Abgeordneten. „Auch könnten vier bis sechs Juden gehört werden.“
12 Erstmals also konnten Juden in ihrer eigenen Sache zu Wort kommen.
Allein schon die Behandlung dieser Fragen führte besonders in den Städten zu starken antijüdischen Agitationen. Die Sorge bei auch nur angenäherter Gleichberechtigung der Juden werde deren Einfluss übermächtig werden, war Ursache dafür. Eine Befürchtung, die wohl nie wirklich zurecht bestand.
Kurzum – die Sache zieht sich hin bis 1828. Am 1. März stimmt die als Standesversammlung jetzt allein tagende Zweite Kammer dem Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen mit 61 gegen 17 Stimmen zu. Der König sanktionierte am 25. April des Jahres. Ein Betrag aus der Staatskasse für Zwecke des israelitischen Kirchen- und Schulwesen, sowie, wenn nötig, auch für den israelitischen Central-Kirchenfonds, wird versprochen. Erstmals gibt der Staat offiziell den Juden finanzielle Zuwendungen. Die Freude war groß, aber Bedenken blieben. Das Gesetz schrieb das fest, was eben noch durchsetzbar war im damaligen Staat mit seinem Parlament. Dieses Gesetz war ein Erziehungsgesetz, das den neuen Staatsbürgern Einschränkungen auferlegte, wie einem zu erziehenden, langsam erst mündig werdenden Kinde. Deutlich macht die Präambel des Gesetzes „die Absicht, die öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubens-Genossen im Königreich […] mit der allgemeinen Wohlfahrt in Übereinstimmung zu bringen und die Ausbildung und Befähigung dieser Staats-Angehörigen zum Genusse der bürgerlichen Rechte […] möglichst zu befördern“. Die Gleichstellung der Juden mit den christlichen Staatsbürgern blieb also bedingt.
Manche Härte barg das Gesetz. Die Juden bewerteten diese Regelung aber überwiegend positiv, weil sie ihnen ,.für alle Verhältnisse des Lebens eine klare, durch Gesetz geordnete Grundlage“ gab. Das Land, das bisher den Juden nur gefühlsmäßig die Heimat war, wurde ihnen jetzt auch gesetzmäßig eine solche. Aus den „Fremden“ waren Württemberger geworden. Fast 100 Jahre blieb dieses Gesetz in Geltung.
13
Das neue Gesetz sah eine einheitliche Leitung für alle jüdischen Gemeinden im Lande vor. Ihr Name war Israelitische Oberkirchenbehörde. In unseren Ohren mag das seltsam klingen, es wird damit aber die neue Stellung der israelischen Gemeinden neben den Kirchen deutlich gemacht. Die erste Aufgabe der neuen Oberkirchenbehörde war es, die israelitischen Gemeinden im Lande neu einzuteilen. Es gab 69 Gemeinden im Jahr 1828, 51 Rabbiner und 67 Vorsänger. Daraus sollten jetzt 13 Rabbinate mit 41 Gemeinden neu gestaltet werden. So wurden rigorose Auswahlprüfungen für Rabbiner durchgeführt. Es galt, eine Erste und Zweite Dienstprüfung wie bei Staatsbeamten oder bei Pfarrern zu absolvieren. Nur sechs Rabbiner von 51 bestanden diese Prüfung, alle anderen wurden entlassen.
Aldingen mit Ludwigsburg war neben Stuttgart, Esslingen und Hochberg zum Rabbinat Stuttgart gefasst worden. Einen Rabbiner hatte Ludwigsburg nie, aber einen Vorsänger/Lehrer, der den Gottesdienst zu leiten und Unterricht zu erteilen hatte.
Nachdem die jüdische Gemeinde in Aldingen, wie schon erwähnt, ab 1886 nicht mehr bestand, trat Ludwigsburg an ihre Stelle im Rabbinat Stuttgart. Die Landflucht, verbunden mit einer großen Auswanderungswelle von 1848 bis 1855 (aus Aldingen wanderten drei Juden aus, von Ludwigsburg keiner) veränderte die Verhältnisse in jenen Jahren drastisch. Lebten 1832 rund 93 Prozent aller württembergischen Juden auf dem Lande, so waren 1932 dann 78 Prozent in den Städten zuhause. Dabei blieb in jener Zeitspanne die Gesamtzahl von 10.000 bis 11.000 Juden in Württemberg fast konstant.
Schon im März 1845 wurde ein Änderungsentwurf des Gesetzes von 1828 der Ständeversammlung vorgelegt. Jedoch die Vorgänge im Jahr 1848 überholten diese Bestrebungen. Die von der Nationalversammlung in Frankfurt beschlossenen Grundrechte des deutschen Volkes brachten den württembergischen Juden die wichtigsten bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte. Als diese Grundrechte aber im Jahr 1851 aufgrund eines Beschlusses der Bundesversammlung wieder aufgehoben wurden und damit für die Juden die Rechtslage von 1828 hätte wieder hergestellt werden sollen, hat dies allenthalben einen Schmerzensschrei der Israeliten hervorgerufen. Daraufhin wurden die erlangten Rechte den Juden belassen und nicht wieder eingeschränkt.
Aber erst das Gesetz von 1861, das „in der II. Kammer mit 80 gegen 1 Stimme, und in der I. Kammer mit 24 gegen 12 Stimmen angenommen“ wurde, brachte die völlige Gleichstellung für die Juden. Es bestand nur aus einem einzigen Artikel: „Die staatsbürgerlichen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Damit war den Juden auch das aktive und passive Wahlrecht zur Ständeversammlung gegeben.
Drei Jahre später wurden auch die bürgerlichen Verhältnisse der israelischen Glaubensgenossen durch Gesetz geregelt. Es ging dabei um die Eidesformel und Ehesachen. Wobei allerdings das Verbot der Heirat zwischen Juden und Christen bestehen blieb. Erst im Jahr 1869 wurde diese Einschränkung aufgehoben. Seit dieser Zeit wuchs die Gemeinde in Ludwigsburg stetig. Die Möglichkeiten, in der Stadt zu leben und zu arbeiten, waren recht günstig, da auch die Wahl des Aufenthaltes und des Berufes keiner Beschränkung mehr unterlag.
14
Wir sehen, wie zögernd und mit welch kleinen Schritten die Gleichstellung der Juden vorangebracht werden konnte. Mit der Oberkirchenbehörde aber hatten die Juden in Württemberg ein ganz wichtiges Instrument erlangt, ihrer eigenen Sache Gehör zu verschaffen.
Es war ein Nachfahre der eingangs erwähnten Freiherren von Gemmingen, der in der Sitzung der II. Kammer 1899 die Petition von 76 Ulmer Israeliten aus dem Jahr 1897 um zeitgemäße Regelung der Rechtsverhältnisse der Israeliten wieder einbrachte. Darin ging es um die Gleichstellung der israelitischen Religionsgemeinschaft mit den Kirchen. Es dauerte lange, aber am 16. September 1912 wurde das Gesetz betreffend die israelitische Religionsgemeinschaft erlassen, dessen erster Artikel, Absatz 1, lautet: „Die israelitische Religionsgemeinschaft ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts.“
15
Die Notwendigkeit von Neuordnungen veranlasste die Israelitische Oberkirchenbehörde auch selbst, Schritte auf eine Verfassunggebende Versammlung hin für die israelitischen Religionsgemeinschaften zu unternehmen. Diese Versammlung wurde 1920 gewählt. Am 18. März 1924 wurde die neue Verfassung der israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs
16 einstimmig angenommen. Mit ihr war auch der dem Judentum fremde Begriff Kirche verschwunden. Aus dem Vorsänger wurde der israelitische Religionslehrer.
426 Jahre hatte der Prozess von der „Ausschließung“ bis zum voll gleichberechtigten Stand für die Juden in unserem Land in bürgerlichen, staatsbürgerlichen und kirchlichen Rechten gedauert. Doch wir wären heute hier nicht versammelt, wenn es dabei geblieben wäre.

Ludwigsburger Geschichte: Erste jüdische Familien ab 1764, ein erster Betsaal ab 1824. Juden durften als Handwerker arbeiten: 1852 kommt der Weber und spätere Textilfabrikant Benedikt Elsas aus Aldingen nach Ludwigsburg. 1873: Das erste Grab auf dem jüdischen Friedhof wird für einen französischen und einen deutschen Soldaten, beide aus jüdischen Familien, beide im Ludwigsburger Lazarett gestorben, gemeinsam genutzt: „Feinde im Leben, im Tode vereint“.


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich knüpfe an an das, was wir von Ludwigsburg selbst wissen. Jüdische Familien erscheinen noch bis 1764 in den hiesigen Seelenregistern. Doch in den folgenden 50 Jahren waren in Ludwigsburg keine Juden ansässig.17 Entweder haben wir bis heute eine Lücke in unserer diesbezüglichen Information oder es kamen Juden tatsächlich erst wieder Anfang des 19. Jahrhunderts in unsere Stadt, nachdem die Ordnungen es erlaubten, auf dem Territorium des Kurfürstentums und Königtums zu leben. 1803 werden vier jüdische Familien und 1810 dann 32 jüdische Einwohner in Ludwigsburg genannt.
Schon für das Jahr 1817 findet sich ein Hinweis, dass im Hause, das einst Süß Oppenheimer (Mömpelgardstraße 18) gehört hatte, der damalige Besitzer Wolf Judas, später Wolf Jordan genannt, einen ersten Betraum eingerichtet hatte.
Sieben Jahre später (1824) stellte dann Wolf Judas den Antrag, einen Betsaal in seinem Garten errichten zu dürfen. Das Gebäude aus Holz war angelehnt an die nördliche Gartenmauer. Es enthielt unter anderem einen Betsaal mit einem Frauenstand im Westen, auf dem Plan „Sinagoge“ genannt, und ein heizbares Wohnzimmer als Schulsaal. Wolf wird um 1830 als Vorsänger genannt. Die jüdische Gemeinde zählte in Ludwigsburg damals etwa 40 Seelen. Erst 1920 wurde diese Synagoge abgetragen.
Mit der Regelung von 1828 ergab sich die Möglichkeit für junge Juden, ein Handwerk zu erlernen; dafür sogar Unterstützung zu bekommen (Erlass vom 12. April 1833) wenn es ein schweres Handwerk wie Schmied, Schlosser, Maurer, Zimmermann oder Wagner war.
18 Metzger und Weber waren beliebte Lehrberufe. Unter den 1.300 jüdischen Handwerkern gab es 1852 in Württemberg 412 Metzger, 274 Weber19. Nicht selten sträubten sich die Innungen und machten den jungen jüdischen Burschen die Aufnahme schwer.
Im Jahr 1852 kam der 1816 in Aldingen geborene Benedikt Elsas nach Ludwigsburg und erwarb das Gebäude Marstallstraße 4. Er hatte das Weberhandwerk gelernt und stellte sich mit 22 Jahren dem Zunftobermeister zur Meisterprüfung. „Er bestand die Prüfung. Später sagte er, der Zunftobermeister habe ihm einen arg durcheinandergebrachten Strang Garn gegeben, den er in kurzer Zeit umspulen sollte und habe es wohl gar nicht gerne gesehen, dass ein so junger Mensch schon Meister werde.“
20
Das Werk gelang wohl und es ergaben sich Arbeitsplätze für Ludwigsburger an den 70 bis 82 Handwebstühlen dieser Fabrikation. In den 1860er Jahren stellte er seine Firma auf Dampfkraft um und richtete mechanische Webstühle ein. Das Werk florierte und seine vier Söhne wandten sich alle der Textilbranche zu. Sie übernahmen später des Vaters Benedikt Lebenswerk.
Die jüdische Gemeinde war auf 77 Seelen angewachsen. Die Toten wurden auf dem jüdischen Friedhof bei Hochdorf beigesetzt. Mit der Zeit wurde der Wunsch laut, einen eigenen Friedhof in Ludwigsburg zu haben. Der Schmied Samuel Schreiber stellte dafür sein 1847 durch Tausch erworbenes Grundstück östlich des Alten Friedhofs mit vier Ar Größe zur Verfügung. Dieser neue Friedhof, von einer Mauer umgeben, wurde von Nordosten her belegt. Letzter Anstoß für die Einrichtung eines eigenen Friedhofes mag der Tod zweier jüdischer Soldaten im Jahr 1870 gewesen sein und die sich daraus ergebende Absicht, ein würdiges Kriegerdenkmal durch die jüdische Gemeinde errichten zu lassen.
In dieses erste Grab wurden ein deutscher und ein französischer Soldat, beide jüdischen Glaubens, die im Ludwigsburger Lazarett gestorben waren, gelegt. Es waren Heinrich Heydemann vom 48. Infanterie-Regiment und Isidor Michel vom 17. französischen Artillerie-Regiment. „Männer des Heeres, Helden des Krieges, Feinde im Leben, im Tode vereint“ steht auf dem Denkstein. Zum 8. August 1873 hatte das israelitische Kirchenvorsteheramt eingeladen. Vertreter der Stadt, Gemeinde, der Vereine und zahlreiches Publikum wohnten der Einweihung dieses Kriegerdenkmales bei. Vorsänger Kahn hielt die festliche Rede (vergl. Ludwigsburger Tagblatt 1873, Seite 738).
Auf diesem Friedhof findet sich als siebtes Grab das von Benedikt Elsas, der 1876 starb. Die hebräische Inschrift lautet: „Hier ist begraben der Mann (Benedikt Elsas), Krone seiner Frau und seiner Söhne, er errichtete sein Haus in Größe und Fleiß und gab mit seinen Händen den Armen (unter Gottes Himmel). Begraben am Mittwoch 12. Adar 5635 nach Erschaffung der Welt. Es sei seine Seele eingebunden in das Bündel der Lebendigen. Benedikt Elsas geboren am 26. Juli 1816, gestorben am 8. März 1876.“
Unweit davon befindet sich der Grabstein seiner Frau Rebekka, die über 90 Jahre alt wurde. Dessen Inschrift lautet: „Hier ist begraben von guter Gesinnung alle ihre Tage, Schmuck ihres Mannes und Pracht ihrer Kinder; sie spendete Gutes und Barmherzigkeit Zeit ihres Lebens, Frau Ribka, Frau von Pichas Bar Ischak, gestorben 4. Kislev 5669 nach Erschaffung der Welt. Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel der Lebendigen. Rebekka Elsas 1818 –1908.“
Dies sind zwei uns bekannte Persönlichkeiten, die in unserer Stadt ihr Haus der Ewigkeit, wie die Israeliten das Grab nennen, haben. Frau Rebekka Elsas hat, nachdem die „Sinagoge“ in der Mömpelgardstraße im Jahr 1883 gekündigt worden war, ein Zimmer in ihrem Haus als provisorischen Betsaal zur Verfügung gestellt, solange der Bau der neuen Synagoge andauerte.
Max Elsas (er war der Sohn Benedikts) ist ein Name, der nicht nur für die jüdische Gemeinde in Ludwigsburg bedeutend war, sondern der ganzen Stadt zur Ehre gereicht. Er steht in hervorragender Weise für das gute, unbeschwerte Verhältnis zwischen Juden und Christen in Ludwigsburg zu jener Zeit. Seine Aktivitäten, weil kaum mehr bekannt, seien als ein Beispiel jüdischer Bürgerschaft vollständig aufgezählt. Neben dem, dass er einem florierenden Fabrikbetrieb in der Stadt mit seinen Brüdern vorstand, engagierte er sich in folgender Weise: Er war bei der Feuerwehr, wie 30 weitere jüdische Bürger in jener Zeit, war Mitglied des Bürgerausschusses von der Demokratischen Partei aus, 1. Stellvertreter des Stadtvorstandes, von da aus im Verwaltungsausschuss, im technischen Ausschuss und im Gasausschuss, ferner Mitglied im Handelsschulrat, in der Handelskammer, im Ausschuss der Landesversicherungsanstalt, in der Invalidenversicherung, Vorstandsmitglied der Ortskrankenkasse, Vorsitzender der Angestelltenversicherung, er saß in den Steuerausschüssen des Finanzamtes, war Schatzmeister des Industrieverbandes, des Gewerbevereins und des Kanalvereins. Während des Krieges war er Oberbürgermeister-Vertreter, Vorsitzender der Kriegshilfe in Stadt und Bezirk, richtete eine Kriegsküche für die Ärmsten ein.
So dürfen wir davon ausgehen, dass es kaum einen Bürger in der damaligen Stadt gab, der nicht direkt oder indirekt Gewinn aus dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einsatz der Familie Elsas zog. Max Elsas hatte als Patriot, der er war, den größten Teil seines Privatvermögens als Kriegsanleihe gezeichnet und später dann verloren. Am bekanntesten ist wohl geworden, dass er sich, als Leder im Krieg für die Rüstung fehlte, mit seinen Teilhabern entschloss, die Antriebsriemen der Webstühle herzugeben und den Betrieb bis Kriegsende stillzulegen. Zwei seiner Neffen, Benno und Berthold, fielen im Ersten Weltkrieg; Benno gleich in den ersten Tagen.
Wahrlich, er hat sich gehalten an das Wort des Propheten Jeremia: „Suchet der Stadt Bestes“ (Jer. 29,7)

1884: Bau der Ludwigsburger Synagoge durch die Reform-orientierte Gemeinde als Ausdruck der Sicherheit, in Ludwigsburg eine Heimat gefunden zu haben. Berichte von bester Nachbarschaftlichkeit von Ludwigsburger/innen christlichen und jüdischen Glaubens im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben.
Wir hörten schon, dass im Hause Elsas der jüdische Betsaal bestand, nachdem sich die Gemeinde entschlossen hatte, eine neue, schöne große Synagoge zu bauen. Damals hatte die Gemeinde 210 Seelen. Im Dezember 1884 wurde die Synagoge eingeweiht. Hilfe war freilich nötig und wurde auch gerne gewährt. Den Juden der Stadt wurde ihre Synagoge wohl gegönnt an einem guten Platz beim Feuersee. Der Staat gab eine Zuwendung von 2.500 Mark, und wie kaum anders zu erwarten, stiftete die Familie Elsas die Orgel.
Es muss ein großes Fest gewesen sein, als die von Architekt Baumgärtner erbaute Synagoge fertig war. Sie war ein quadratischer Zentralbau mit Mittelrisaliten an allen vier Seiten, einer erhobenen Vierung und einer darüber stehenden Laterne. Sie stand, wie es die Regel vorschrieb, auf einer leicht angehobenen Fläche und überragte mit dem zentralen Türmchen die Häuser der Nachbarschaft. Auf dem östlichen First waren die beiden Gebotstafeln zu sehen. Die Apsis nach Osten barg den Thoraschrein. Das Gebäude war in neuromanischem Stil gehalten. Eine halbhohe Mauer mit eisernem Gitter umgab die Anlage. Die Erstellung einer Orgel in der Synagoge weist darauf hin, dass sie als Reform-Synagoge verstanden werden wollte. Auch die Verwendung der deutschen Sprache in den Synagogengottesdiensten war in der Stadt üblich.
Der Oberkirchenrat Dr. Joseph Maier, er wurde später vom König geadelt, wiederholte immer wieder, dass eine Reform der Gebete, besonders in den Stadtgemeinden und von der jungen Generation erwartet werde, denn in ein paar Jahrzehnten würden nur noch wenige Juden Hebräisch verstehen. Israels alter Wunsch nach Wiederherstellung des Tempels und Rückkehr in seine Heimat sei nur ein nostalgisches Sehnen in der Vergangenheit, „nun da wir eine Heimat gefunden haben“ meinte der aufgeschlossene und gelehrte Rabbiner damals.
21
Dies war für die Ludwigsburger Juden bezeichnend: Sie gehörten durchgängig der liberalen Richtung (Reform-Synagoge) an, sie verstanden sich als Deutsche unter Deutschen, sie zeigten sich als Patrioten und waren ihrer Heimat in diesem Land und in dieser Stadt so gewiss, dass die Erwartung einer Rückkehr ins Heilige Land keine lebensgestaltende Rolle mehr spielte. Welche, wenn nicht Bürger wie Max Elsas, durften der allgemeinen Wertschätzung in Ludwigsburg gewiss sein?
Berichtet wird in dieser Zeit von selbstverständlichen Handelsbeziehungen aller Art. Bezug und Lieferung von Waren und Leistungen zwischen Juden und anderen Bürgern der Stadt fielen niemandem negativ auf. Auch davon, dass mancher mit Krediten von Juden seine berufliche Existenz begründen konnte, wird berichtet.
Von Kinderkontakten und Freundschaften in der Nachbarschaft ist oft die Rede. So durften die Nachbarskinder einer jüdischen Familie in der Passahzeit beliebig viele von den begehrten Matzenbroten nehmen, die die Hausfrau in einem Sack für Gäste bereithielt. Die kleine Tochter des Zimmermeisters, die die Rechnungen des Vaters zustellen musste, erhielt dafür bei jüdischen Kunden einmal eine Schokoladentafel, ein andermal einen Ball. Im Hause Dr. Pintus gab es für Kinderbesucher köstliche Äpfel. Schallplattenmusik vom Grammophon erfreuten die Herzen der Freundinnen der Tochter des Hauses.
Oder war im Notfall die eigene Mutter nicht zugegen, spendete auch die jüdische Nachbarin dem verunglückten Kind lindernden Trost. Anderswo durften die Kinder am Sabbatmahl teilnehmen. Das Fußballspiel mit den jüdischen Buben, die vor dem Betsaal auf den Unterricht warteten, war selbstverständlich. Berichtet wird, dass einige Buben aus der Unteren Stadt von Dr. Schmal einen Fußball geschenkt bekommen hätten.
Schon eine besondere Zuwendung war diese: Die kleine Tochter der Reinemachefrau im Kaufhaus Stern wartete auf ihre Mutter und saß schließlich weinend auf der Treppe im dritten Stock, nahe der Schneiderei. Da kam Frau Stern, eine zierliche weißhaarige Dame vorbei und fragte nach dem Grund des Kummers der Kleinen. Sie antwortete: „Bald ist Kommunion und wir haben kein Geld für ein festliches weißes Kleid“. Da ließ Frau Stern beim Kinde Maß nehmen und übergab dem Mädchen acht Tage später das fertige Festkleid, dazu Unterwäsche und Strümpfe und nicht vergessen war ein Gutschein für eine Kommunionskerze beim Seifen-Hopf. Zu Weihnachten gab es dann eine Puppe und für den jüngeren Bruder Schuhe, der als seine Erstkommunion anstand, auch ausgestattet wurde. Die schöne große Kerze konnte noch einmal verwendet werden.
Es gab in dieser Zeit in Ludwigsburg von Juden betrieben 5 Fabriken 3 Kaufhäuser 2 Einzelhandelsgeschäfte 1 Altwarenhandlung 4 Pferdehandlungen.
Interviews mit Persönlichkeiten unserer Stadt, die an jene Zeit noch Erinnerungen haben und darüber zu sprechen bereit waren, ergaben übereinstimmend mit schriftlichen Zeugnissen einhellig und ohne Idealisierung, dass das Verhältnis der Juden zu den anderen Bürgern der Stadt und umgekehrt unkompliziert, normal und freundlich gewesen war. Schon vor der Jahrhundertwende wurden bei offiziellen Anlässen die Vertreter der jüdischen Religionsgemeinschaft regelmäßig ebenso eingeladen, wie die der Kirchen. Bei Fest- und Dankgottesdiensten feierten die Juden am Samstag davor. Als beliebiges Beispiel sei die kirchliche Feier des Verlobungsfestes der Prinzessin Pauline am 27. März 1898 genannt. An keiner wichtigen öffentlichen Veranstaltung der Zeit damals fehlten die Juden.
Selbstverständlich wurde ihnen, als der Neue Friedhof angelegt war, auch ein Feld mit einer Ummauerung zur Verfügung gestellt. Die evangelische Kirchengemeinde, die 1897 angefragt wurde, ob sie Einwände gegen die Errichtung eines israelischen Friedhofs hätte, teilte mit, dass nichts derartiges vorzubringen sei.
Am Krieg 1914/18 nahmen die Ludwigsburger Juden ebenso teil wie alle Bürger der Stadt und gaben das Ihre an der Front und in der Heimat. Sechs jüdische Männer sind gefallen.
Ein fast vergessener Vorgang aus dieser Zeit sei erwähnt: Die Vereidigung der jüdischen Soldaten war nicht einheitlich geregelt. Teils zogen die christlichen Soldaten in evangelische und katholische Kirchen und ließen die Juden auf dem Kasernenhof zurück. Oder wie in Heilbronn, wo alle drei Geistlichen auf dem Kasernenhof gemeinsam bei der Vereidigung gegenwärtig waren. Nach Vereinbarung hielt dort immer der Rabbiner die Ansprache. 1916 wurde vom Württembergischen Kriegsministerium angeordnet, dass die jüdischen Soldaten in Synagogen vereidigt werden sollten. Die erste derartige Handlung, bei der die jüdischen Soldaten nach der Vorbereitung durch den Rabbiner, Oberkirchenrat Dr. Krohner, von einem Offizier auf dessen Degen vereidigt wurden, fand in der Ludwigsburger Synagoge am 11. Juli 1916 statt.
22
Gemeinsam mit allen anderen Bürgern trugen die Juden auch die Last der Nachkriegszeit und bauten sich ihre Existenzen, so gut es ging, wieder auf. Ausgesprochen arme Juden soll es auch in den 1930er-Jahren in Ludwigsburg nicht gegeben haben.
Drei Ärzte und zwei Rechtsanwälte hatten Praxen in Ludwigsburg
23. Die häufigsten Familiennamen waren Dreyfuß, Elsas, Israel, Kahn, Kaufmann, Kusiel, Ottenheimer, Schmal, Stern, Strauß und Wertheimer. Ein weiterer Name sei genannt, weil dieser Mann und seine Familie hoch angesehen und geschätzt und von den Kindern geliebt war: Dr. Walter Pintus. Der kleine Mann, wegen einer Hüftluxation hinkend, war unermüdlich für seine Patienten da. Er sah nicht nur die Krankheiten, sondern auch andere Nöte, die die Menschen plagten. So hat er manchem mittellosen Patienten das Honorar erlassen. Den Ärmsten gab er zu Essen mit. „Frau hol Mittagessen für die arme Leut“, soll er manchmal aus der Praxis gerufen haben. Er sagte zu allen Leuten „Du“. Oft war er über Jahrzehnte der Hausarzt ganzer Familien. Kinder hatten keine Angst vor ihm, liefen gerne seinem Kütschle nach, wenn er Hausbesuche machte. Im Winter fuhr er nach den Berichten manchmal auch mit einem Schlitten. Auf dem Weg nach Oßweil durften Kinder ein Stück auf den Kufen stehend mitfahren, und sie warteten dann, bis der Doktor seine Besuche erledigt hatte, um mit ihm wieder zurückzugleiten. Liebe- und wohl auch sorgenvoll nannte er die Mädchen mit ihren leichten Kleidern im Winter „ihr Mädle mit eure Schwendsuchtshemedle“. Gerade heraus konnte er sein, so zu einem alten Oßweiler Bauern, der im Sterben lag, zu dem er sagte: „Jetzt wird nemme g’fackelt, jetzt wird g’schtorbe“. Neben dieser Leutseligkeit und Freundlichkeit galt er als ein hochgebildeter und belesener Mann. Seine Bibliothek hat jeden, der sie kennen lernte, in Erstaunen versetzt.
Bei allem Patriotismus und in der Gewissheit, dass solchen Juden, wie sie in Ludwigsburg lebten, nichts Schlimmes passieren könnte, stand er jenem neuen Regime sehr skeptisch gegenüber und warnte seine Freunde, sich darauf einzulassen. Und doch hat der Mann, der im Weltkrieg Lazarettarzt gewesen war, als wieder die schwarz-weiß-roten Fahnen gezeigt werden konnten, als einer der ersten eine solche erworben. Vielleicht auch, um gegen das Beflaggungsverbot für Juden zu opponieren.
Ein Beispiel für den selbstverständlichen Einsatz eines jüdischen Bürgers auch im Vereinsleben der Stadt soll Erwähnung finden: Otto Israel war Gründungsmitglied und der erste Kassier des Schwimmvereines Ludwigsburg 08 e.V.. Er leitete den Verein als Erster Vorsitzender von 1912 bis 1920 und wurde um seiner Verdienste willen zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Ein Bild zeigt ihn später mit Kriegsauszeichnungen.
24
Kaum einer in Ludwigsburg hatte Grund zur Klage gegen einen Juden und wenn, dann gewiss nicht mehr, als gegen andere Zeitgenossen auch. So stellte Beate Maria Schüßler fest. „Tatsache ist, dass während der Jahre von 1928 bis 1942 in Ludwigsburg kein Fall bekannt wurde, in dem ein jüdischer Bürger das Recht verletzt, das Gesetz übertreten hatte“.
25
Die Juden in Württemberg und damit auch in Ludwigsburg konnten sich genau neun Jahre lang der vollkommenen bürgerlichen, staatsbürgerlichen und religiösen Gleichbehandlung erfreuen (seit 18. März 1924). Und dann brachen alle für sie und durch sie in Jahrhunderten erworbenen, erkämpften, erarbeiteten und erlittenen Rechte zusammen.

Biografische Beispiele: Familie Elsas, Dr. Walter Pintus – beliebt und integriert, dann ausgegrenzt, verfolgt, ermordet. Beispiele für solidarisches Verhalten aus der nichtjüdischen Bürgerschaft.

Nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 begann schlagartig die Judenhetze offen aufzuflammen. Die Rede von Julius Streicher am 18. Februar 1933 im Bahnhotel, heute Musikhalle, ließ nicht den geringsten Zweifel an der Absicht der neuen Machthaber, die Juden zu vertreiben. Auf sie wurde die Ursache aller vergangenen und in der Zukunft zu erwartenden Nöte Deutschlands, ja der Weit, projiziert. Schon am 29. März 1933 waren in Ludwigsburg einige übereifrige SA-Leute vor jüdische Geschäfte gezogen und hatten dort Aufstellung genommen. Sie mussten wieder abgerufen werden. Am Samstag, den 1. April begann dann um 10.00 Uhr in der ganzen Stadt, wie überall im Land, der Boykott. Er galt allen Geschäften der Juden, den drei Arztpraxen und einer Rechtsanwaltspraxis. Noch kam es den Tag über nicht zu Tätlichkeiten gegenüber Personen, noch wollten sich viele Ludwigsburger nicht einfach von ihren guten Beziehungen zu jüdischen Geschäftsleuten trennen. „Trotz aller Parteischikane hatte der Boykottaufruf in Ludwigsburg doch nicht den von den Nationalsozialisten gewünschten Erfolg“.26
Wenige Tage danach war eine andere Stimme zu hören, die allerdings nicht sehr weit und nicht lange hallen sollte. „Am 9. April 1933 nahm eine Abordnung des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten im Schlosshof an der Vereidigung der Rekruten der Reichswehr teil. Der Kommandeur wandte sich in seiner Ansprache ausdrücklich gegen jede Diskriminierung von Bürgern: ‚Ihr wisst, die Armee kennt keine Gegensätze der Klasse, des Standes, Religion oder des Stammes. Wir dienen und gehören dem ganzen Volk - unterschiedslos“‘
27
Für manchen aber waren die Zeichen eindeutig. Schon im Jahr 1933 wanderten elf Juden aus Ludwigsburg aus. Bis 1938 entschlossen sich 90 jüdische Personen zu diesem Schritt. Da 1933 noch 197 Juden in der Stadt lebten, bedeutete dies, dass fast die Hälfte der jüdischen Bürger Ludwigsburgs bis dahin das Land verlassen hatte, und dies ausnahmslos unter ganz erheblichen Verlusten an Hab und Gut.
Manchmal kann man noch heute die Meinung hören: „Hätten diese Männer und Frauen nicht so lange gezögert, das Land zu verlassen, wären sie großer Not entgangen“. Man möge aber verstehen, dass Emigration einen Entschluss bedeutete, den viele Juden lange nicht vollziehen konnten. Hofften doch die meisten, dass die Gerechtigkeit und der Rechtssinn der anständigen Deutschen und der Völker der Weit diesem Regime rasch ein Ende bereiten werden.
Zum anderen hatte die Emigration für alle einen gewaltigen Absturz aus ihrer sozialen und wirtschaftlichen Position zur Folge, wenn zum Beispiel aus dem Betriebsleiter der Hofkehrer wird oder der selbständige Kaufmann als Landarbeiter seinen Unterhalt verdienen muss und dies oft bei mangelnden Sprachkenntnissen im fremden Land, meist nur geduldet und ohne irgend eine Vorstellung, wie das Leben weitergehen soll.
Mit fortwährenden und immer weitergehenden Schikanen wurden die Juden auch in unserer Stadt drangsaliert. Am 7. April folgte das Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Beamtentums auf Grund dessen alle beamteten Juden entlassen wurden, ohne Anspruch auf Ruhegeld. Im Juli wurde dem Lungenfacharzt Dr. Ludwig Elsas, einem Sohn des Max, die Kassenzulassung entzogen und er der Funktion des Vertrauensarztes enthoben. Das bedeutete den Verlust von 95 Prozent seines Einkommens. Man bedenke, wir sind damit noch im Jahr 1933.
Der September 1935 brachte die berüchtigten „Nürnberger Gesetze“. Es kam zur Diskriminierung der Kinder in den Schulen auf verschiedene Weise. Der Samstag wurde damals zum Staatsjugendtag erklärt. An Veranstaltungen solcher Samstage durften die jüdischen Kinder nicht teilnehmen. Wenn auf dem Schulhof die Flagge gehisst wurde, konnten sie nicht anwesend sein, weil ihnen verboten war, die Flagge zu grüßen. Der Schwimmunterricht wurde für sie gestrichen, in einzelnen Fällen auch der Musikunterricht.
28
Immer wieder berichteten mir übereinstimmend die befragten Zeitzeugen, dass die jüdischen Mitschüler und -schülerinnen, selbst Nebensitzer, ohne irgend ein Wort vorher oder nachher, eines Tages verschwunden seien. Teils durch Emigration der Familie, teils durch Verweis, zuerst von höheren Schulen, später auch von allen anderen, an die einzige jüdische Schule in Stuttgart.
Ein kleiner Versuch der Hilfe, die ein Schüler seinem halbjüdischen Freund zuteil werden ließ, sei erwähnt. Nachdem der Bub die Oberschule nicht mehr besuchen durfte, gab ihm sein Freund englischen Unterricht, regelmäßig vier Stunden in der Woche, mit dem Ziel, die Rückkehr in die gleiche Klasse zu ermöglichen, wenn der „Spuk“ vorbei sein werde. Jeder versteht, dass dazu nicht nur eine Bubenfreundschaft gehörte, sondern auch ein starkes Elternhaus, das in der Opposition klug war.
Erst jetzt bei den Interviews wurde mir der mutige Einsatz einer ganzen Familie Vater, Mutter und kleiner Tochter zur Kenntnis gegeben, mit dem diese Menschen über Wochen hin zwei Bedrohte im Gartenhaus in einem Verschlag hinter den Hasenställen versteckten, bis deren Flucht über die Grenze möglich war.
Auch Details für die helfende Fantasie der Menschen in der Opposition mögen einmal genannt und dankbar ausgedrückt sein. Das 12- 13jährige Mädchen brachte vor dem Schulgang Speise ins Gartenhaus „für die Hasen“ und holte auf dem Heimweg das leere Geschirr wieder ab. Manchmal kam das Kind zu spät zur Schule, weil es ja sorgfältig sein musste, denn Verdacht war schon auf die Familie gefallen. Ein Mitschüler, der denselben Schulweg hatte, wurde von seinem Vater, der Nazi war, zum Aufpasser bestellt. Der Vater des Mädchens und der Lehrer verständigten sich, so dass das Kind keinen Tadel mehr erfuhr, wenn es zu spät zum Unterricht kam. Dann und wann, vor allem nach einem Diktat entließ der Lehrer das Mädchen und behielt ihre Bücher bis zum anderen Tage bei sich in der Schule, so dass Platz für das Geschirr im Ranzen war und verordnete dem Knaben, der Fehler im Diktat wegen, ein Nachsitzen. Auf diese Weise kam das Mädchen unbeobachtet zum Gartenhaus und nach Hause. Schon waren solche Aktionen hochgefährlich und man musste wissen, wem man noch Vertrauen schenken konnte.
Eine andere Begebenheit, die in Ludwigsburg spielt, berichtet Julius Wissmann, damals Geschäftsführer des israelitischen Oberrates. Die notwendig gewordene Errichtung der israelitischen Schule forderte auch Sportunterricht und da jüdische Sportlehrer rar waren, mussten solche durch Kurse in den Jahren 1936/38 ausgebildet werden. Zur Prüfung und Anerkennung, die von staatlicher Seite durchgeführt wurden, gehörte auch Schwimmen. Kein Schwimmbad im Lande wollte die jüdischen Sportlehrer auch nur für eine Stunde einlassen. Schließlich wurde die Erlaubnis des Ludwigsburger Stadtbades erlangt. Als der Leiter der Schwimmhalle entdeckte, dass es sich bei den Prüflingen um Juden handelte, reklamierte er beim Prüfer, der aber trug nach dem Ankleiden das goldene Parteiabzeichen. Doch wurde der Vorgang höheren Orts gemeldet. Julius Wissmann wurde vorgeladen: „Wie ist das möglich gewesen?“ Er antwortete, er habe sich am Telefon gemeldet: „Hier spricht der Oberrechnungsrat vom israelischen Oberrat“ darauf habe der Hallenmeister zugesagt. Damals konnte dieser Ministerialrat mit dem Rechnungsrat noch lachen.
29
Zur selben Zeit ereignete sich auch die folgende erschütternde Szene. Heinrich Kling berichtet in seinem Buch „Zeit mit Wunden“, dass er als Pimpf eines Tages mit dem ganzen Fähnlein
30 zur Mathildenstraße marschiert sei. Dort hätten alle in Dreierreihen Aufstellung genommen und im Sprechchor vor dem Hause des Dr. Pintus geschrien: „Juda verrecke, schmeißt die Juden hinaus.“ Selbstverständlich ging der Bub weiterhin zu seinem Hausarzt Dr. Pintus zum Bestrahlen. Die Spannung in seinem Verhalten war dem Zwölfjährigen kaum bewusst.
Zu dieser Zeit, in der Nacht vom 1.zum 2. November 1937 wurden an der Synagoge 15 große Bleiglasfenster mit 86 Scheiben eingeschlagen. Die Bitte des Vorsteheramtes an die Stadt, zu prüfen, ob sie nicht Haftpflicht anerkennen würde, wurde mit dem lapidaren Satz beschieden: „Die Anerkennung einer Haftpflicht kommt nicht in Frage“.
31 Das alles war noch vor November 1938.

Zerstörung der Ludwigsburger Synagoge am 10. November 1938 – die herabgestürzten Gesetzestafeln von der Synagogenfassade als Sinnbild für den Niedergang menschlichen Verhaltens in Nazi-Deutschland.


So vorbereitet kam dann der grauenhafte Tag. Das Attentat auf den Legationsrat von Rath durch den jugendlichen Juden Herschel Grynszpan (Grünspan) in Paris am 7. November diente als Anlass, die schon längst geplante öffentliche Aktion gegen die Juden und die Synagoge durchzuführen.32 Im Unterschied zu den meisten Brandstiftungen und Zerstörungen von Synagogen die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 vorgenommen wurden, ist dies in Ludwigsburg erst am frühen Nachmittag des 10. November geschehen. Der Grund dafür wird in dem Polizeivernehmungsprotokoll vom 21. Dezember 1946 so angegeben: Die fernmündliche Rundmeldung, die Synagogen anzuzünden, hat Ludwigsburg nicht erreicht, weil der betreffende Parteigenosse zu bequem war, nachts ans Telefon zu gehen.33
Darum musste das Versäumte am Tage nachgeholt werden. Es ging alles sehr hastig. SA, Sicherheitsdienst und Hitler-Jugend mussten alarmiert werden. Die Dienststellen waren zum Teil nicht besetzt, man nimmt an, weil die Betreffenden nach Freudental gefahren waren (wo die Synagoge auch erst am 10. November ausgeraubt wurde). Benzin musste beschafft werden. Erst um 13.00 Uhr begann die Brandschatzung, Bücher und Kleider wurden aus der Synagoge heraus, später auch wieder zurück ins Feuer geworfen. Um 13.30 Uhr schlugen die Flammen aus dem Gebäude. Um 13.35 Uhr wurde die Feuerwehr alarmiert. Bald hatte sich eine große Zahl von Menschen angesammelt, die stumm dabei stand. Ich habe mit manchen Augenzeugen gesprochen. Sie bezeichneten die Stimmung mit lähmendem Entsetzen. Flüstern „das ist nicht gut“ oder „wir werden das büßen müssen“ und Ähnliches wurde gehört.
Zugleich war da die Angst, ob jemand mitgehört haben könnte. Es gab aber auch die Haltung gleichgültigen Interesses. Als die Feuerwehr eintraf, beschränkte sie sich darauf, die Nachbarhäuser zu schützen. Beifallklatschen einiger kam auf, als die Zehn-Gebote-Tafeln vom Giebel der Synagoge gestoßen wurden.
Burschen spielten mit den herausgeworfenen Zylindern und Kultgegenständen Fußball auf der Straße. Dann auch der Ruf: „Auf zum Grumach“, einem Kaufhaus Ecke Wilhelm-/Kirchstraße. Auch wenn ich dies nicht zu hoch einschätzen will, ist doch bemerkenswert der überlieferte Satz eines Beteiligten „Jetzt geht‘s in Einem hin, jetzt zünden wir auch die katholische Kirche gleich an“.
34 Erst in der Nacht zum 11. November, nachdem Goebbels am Tage zuvor die Aktion als ausreichend schon gestoppt hatte, wurden in Ludwigsburg Schaufenster eingeschlagen und Geschäfte geplündert, vor allem die der Firmen Grumach, Wohlwert und Stern.
Es kommt in der Nacht zu Massenverhaftungen. Selbst der greise Max Elsas wird eingesperrt. Er wird zwei Tage später wieder freigelassen. Viele der Inhaftierten werden nach Welzheim und später nach Dachau verschleppt. Dr. Pintus hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach schon auf dem Weg ins KZ das Leben genommen. Er hatte sich, nach einer Andeutung einem Freund gegenüber, für diesen Fall versehen
35.
Der Technische Notdienst hat die Ruine der Synagoge bis in der Zeit zum 15. November „wegen Einsturzgefahr“ gesprengt. Steine der Synagoge wurden zum Gefängnis gebracht, um damit dort die Mauern zu erhöhen.
36 Der Zynismus war auf die Spitze getrieben mit dem Satz in der Zeitung „Das Grundstück wird in den Besitz der Stadt übergehen. Wie wir hörten, besteht die Absicht, dort einen Parkplatz einzurichten, womit man sicher einem dringenden Bedürfnis entgegenkommen würde.“ (Ludwigsburger Zeitung 11. November1938). Die Juden des Reiches mussten eine Milliarde Mark als Schadenersatz für diese Nacht bezahlen, ihre zerstörten Geschäfte und Einrichtungen wieder herrichten lassen, wobei die allfälligen Ersätze durch Versicherungen direkt dem Staat auszuzahlen waren.
Nach der Zerstörung der Synagoge beantragte der israelitische Religionslehrer Metzger im Haus Seestraße 75 Gottesdienste abhalten zu dürfen. Mit dem Begriff „Reichskristallnacht“ wurden bald danach und werden noch heute diese Ereignisse oft bezeichnet. Es ist zu vermuten, dass diese den damaligen amtlichen Sprachgebrauch nachahmende Formel vom Volksmund wegen des zerschlagenen Kristalllüsters eines Berliner Kaufhauses gefunden wurde, als Versuch mit sarkastischer Ironie das Geschehen zu verharmlosen oder dem wortlosmachenden Entsetzen einen damals eben noch möglichen Ausdruck zu geben.
Was ist geschehen in jener Nacht – in Ludwigsburg einen halben Tag später, weil einer verschlafen hat–? Mit dem Absturz der Gebotstafeln vom Giebel der Synagoge ist Recht und Ordnung, Gesetz und Verlässlichkeit, Treue und Liebe abgestürzt bis zum vollkommenen Zerbruch, und die Mauern der Gefängnisse wurden hoch, nicht nur für die Juden im Lande. Von da an spätestens saß jedem die Angst im Nacken und jeder konnte erkennen, dass der Umgang miteinander nicht mehr von geltendem, anrufbarem Recht geborgen war. Gefährdet war das freie Wort.
Stück um Stück wurde den Juden Recht genommen. Ausgangsbeschränkungen für Juden wurden eingeführt. Nur Mutige verkauften noch Lebensmittel an Juden, wie jener Metzgermeister, der hinter dem Laden im Gang unerschrocken weiterhin an Juden seine Ware abgab. Als die Familienangehörigen ihn baten, damit doch aufzuhören, denn, so sagten sie, „Du gefährdest uns alle“, antwortete er: „Wenn’s rauskommt, schiebt alles auf mich“. Andere wurden mit dem Plakat „Judenknecht“ durch die Stadt getrieben, weil sie nicht aufhören wollten, Kontakte zu Juden zu halten und sie wie Menschen zu behandeln. Und kaum wagte man, die Juden noch zu grüßen oder gar ihnen öffentlich die Hand zu geben, selbst unter alten Nachbarn Freunden nicht.
Da war die junge Frau, die zum Abschiedsbesuch die befreundete Frau Pintus in ihr Hause einließ und dafür nicht ins Beamtenverhältnis übernommen wurde. 1941 konnte die Witwe von Dr. Pintus mit einer Kuriermaschine der Firma Bosch, die immer wieder bedrängte Menschen ausflog, nach Spanien und Südamerika gelangen
37. 146 jüdische Bürger konnten emigrieren.
Inzwischen trat die Bedrängnis auf den Höhepunkt. Es geschah, wie mir berichtet wurde, dass Max Elsas freundlich grüßend in ein Ladengeschäft gekommen war, aber nicht beachtet und auch nicht bedient wurde und dann unverrichteter Dinge den Laden wieder verlassen musste. Der Schlusspunkt ist dann wohl gewesen, dass die Wirtin des Lokals, in dem Max Elsas gerne ein Viertele trank, ihm eines Tages unter Tränen sagen musste: „Herr Elsas, sie dürfet nemme komme“. Auch dieser hochverdiente Mann hat sein „Haus der Ewigkeit“ nicht in unserer Stadt erhalten dürfen.
38
52 jüdische Bürger wurden deportiert, vier überlebten diese Not. Acht jüdische Personen in sogenannten „privilegierten Ehen“, das heißt mit einem Arier verheiratet, konnten ihr Leben behalten. Es kann nach all dem nicht angenommen werden, dass es in unserer Stadt damals auch nur einen Menschen mit klaren Sinnen gegeben hätte, der von diesen Vorgängen nichts gemerkt hat.
50 Jahre seit dem Absturz der Gebotstafeln sind vergangen und 284 Jahre Geschichte dieser Stadt mit ihren Juden. So sind wir dankbar, dass heute israelitische Persönlichkeiten zu Gast bei uns sind. Möge es nicht nur an diesem bedrückenden Tag so sein, sondern auch zu schönen Anlässen.
Wir danken, dass es solche Menschen, von denen wir gesprochen haben, deren Namen wir nannten und die wir nicht mit Namen nennen konnten, in unserer Stadt gelebt haben. Sie waren Gewinn, sie suchten das Beste für unser Gemeinwesen in vieler Hinsicht. Und wir sind traurig, dass wir nur in Vergangenheit von ihnen sprechen können.
Trauer kennt Stufen oder Phasen, die der Trauernde durchschreiten muss. Oft ist da zuerst das Nichtwahrhabenwollen, das Verdrängen des Geschehenen. Wenn es sich aber zeigt, dass dies kein Weg zu gehen ist und die Wahrheit stärker bleibt, kann der Zorn aufkommen: Warum mussten wir das tun? Warum haben wir die Bitte um Heimat, von den Juden jahrhundertelang vorgetragen und vorgelebt, nicht erfüllt? Und Ohnmacht kann sich anschließen: Was kann und konnte ich tun – ich kleiner Mensch damals? Und die Jüngeren waren ja noch gar nicht dabei, wie sollen sie Verantwortung tragen und mittragen? Und schließlich kann sich das „Ja“ einstellen: So ist es, so war es!
Was kann ich jetzt tun? Keiner, ob Alt oder Jung, ist entlassen aus der Pflicht der Erinnerung. Wie können wir dem moralischen Anspruch, den jene Frauen und Männer haben und auf Söhne und Töchter als ihre Erben weitergegeben haben, entsprechen? Wie kann mich das Ja dieser Trauer weiterführen in der Verantwortung dafür, dass solches künftig noch nicht einmal mehr gedacht werde? Wie kann mich das Ja unter der Trauer weitergehen lassen?
Niemand und nichts nimmt uns das so Geschehene jemals ab. Hilfreich fand ich dafür den mutigen, dem Trauernden Trost schenkenden Gedanken, den die Israeliten im Blick auf ihren Sabbat haben: Sie wissen, Sabbat ist Freude - Freude am Wort und Gesetz, das Gott seinem Volk gegeben hat und Freude mit den Menschen, die der Herr um sie stellt. Diese Freude ist für sie so groß, dass das Zeichen der Trauer, selbst um einen geliebten Menschen, das schwarze Band am Gebetsmantel, im Trauerjahr, während des Sabbats verborgen wird. Wenn wir einem Sabbat gleich Verantwortung für die Beachtung des Wortes und der Gebote Gottes übernehmen, wenn wir die herabgeworfenen Gebotstafeln wieder aufrichten und die trennenden Mauern abbrechen, wenn wir dem Recht und allen Menschen Achtung und Würde schenken, mag es erlaubt sein, kann es gar hilfreich verordnet sein, die Zeichen der Trauer, wie am Sabbat, zu verbergen.

Dass Trost und Zuspruch uns allen geschenkt werde durch das mahnende und heilende Wort des einen Gottes. In diesem Sinne nehmen Sie es bitte an, wenn ich spreche, wie die vom Sabbat-Gottesdienst Heimkehrenden:
Schabbat schalom!


Anmerkungen
1 Tänzer, Aaron: Die Geschichte der Juden in Württemberg. Nachdruck der Ausgabe 1937. Frankfurt/M. 1983. S. 4.
2 Vergl. „Hoffaktoren“ in: Brackhaus Enzyklopädie. 1969.
3 Belschner, Christian: Ludwigsburg im Wechsel der Zeiten. Von Walter Hudelmaier neu bearb. und bis zur Gegenwart erw. 3. Aufl. Ludwigsburg 1969. S. 120.
4 Schmäh, Hans: Ludwigsburger Manufakturen im 18. Jahrhundert. In : Ludwigsburger Geschichtsblätter 15/1978. S. 36f.
5 Stuttgarter Zeitung. Sonntagsbeilage vom 6. 2. 1988.
6 Sauer, Paul: Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Stuttgart 1966. S. 121; In der Ortschronik von Aldingen S. 158 wird mitgeteilt: Wann die Juden sich hier ansässig gemacht haben und als sogenannte Schätzjuden (cfr. W.K.u.L.A. s. 853) ihren rechtlichen Wohnsitz und Unterhalt hier fanden, lässt sich nicht genau angeben. Wenn aber 1751 vor allzu familiärem Umgang mit Juden gewarnt werden muss (im Kirchenzensurbuch), so waren sie jedenfalls um diese Zeit schon in einiger Anzahl hier und man hat ihnen offenbar das Leben nicht sauer gemacht.
7 Sauer, a.a.O., S. 1 05.
8 Ortschronik von Aldingen. S. 160f.
9 Der Sabbath-Weg ist die Strecke, die ein Jude am Sabbat spazierengehend zurücklegen darf. 2 Mose 16, 29 ist bestimmt: „Sehet, der Herr hat euch den Sabbat gegeben; darum gibt er euch am sechsten Tag für zwei Tage Brot (Manna wäh rend der Wüstenwanderung). So bleibe nun ein jeder, wo er ist, und niemand verlasse seinen Wohnsitz am siebten Tage.“ Mit dieser Ordnung noch vereinbar ist nach der Mischna eine Wegstrecke von 2000 Ellen. Später wurde diese Wegstrecke als ca. 2 km von der Stadtgrenze aus bestimmt. Nach Aldingen sind es vom Schorndorfer Tor aus ca. 4 Kilometer.
10 Tänzer, a.a.O. S. 10.
11 Tänzer, a.a.O., S. 11 f.
12 Tänzer, a.a.O. S. 25-26.
13 Tänzer, a.a.O. S. 30-37.
14 Tänzer, a.a.O. S. 94-95.
15 Tänzer, a.a.O. S. 102- 104.
16 Tänzer, a.a.O. S. 127.
17 Belschner/Hudelmaier a.a.O. S. 120.
18 Tänzer, a.a.O. S. 56.
19 Dicker, Hermann: Aus Württembergs jüdischer Vergangenheit und Gegenwart. Gerlingen 1984. S. 77.
20 Schüßler, Beate Maria: Das Schicksal der jüdischen Bürger von Ludwigsburg während der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung. In: Ludwigsburger Geschichtsblätter 30/1978. S. 79.
21 Dicker, a.a.O. S. 26.
22 Tänzer, a.a.O. S. 11 6.
23 Schüßler, a.a.O. S. 27.
24 Jubiläumsschrift zu 50-jährigen Bestehen des Schwimmverein Ludwigsburg 08 e.V. 1958. S. 20, 29, 40.
25 Schüßler, a.a.O. S. 41.
26 Schüßler, a.a.O. S. 33.
27 Sauer, a.a.O. S. 123.
28 Schüßler, a.a.O. S. 48ft.
29 Sauer, a.a.O. S. 211.
30 Fähnlein war die Bezeichnung einer Einheit der „Deutschen Jugend“ (DJ), in der 10- bis14jährige Glieder der Hitlerjugend organisiert waren. Ein Fähnlein hatte die Stärke von 60 bis 100 Pimpfen.
31 Schüßler, a.a.O. S. 43ft.
32 Es ist heute bekannt, dass schon vor dem 9. November 1938 einzelne Synagogen im Reich geschändet wurden, wohl als Test auf das Verhalten der Bevölkerung.
33 Stadtarchiv Ludwigsburg: Polizeivernehmungsprotokoll vom 21. Dez. 1946. S. 6f.
34 Stadtarchiv Ludwigsburg, a.a.O. S. 11 f.
35 Hans Wertheimer, der auf Einladung der Stadt aus den USA zum Festakt gekommen war, berichtete, er sei am 13. November 1938 mit anderen Juden im KZ Dachau angekommen, dort habe er Dr. Pintus hinkend aus dem Zug aussteigen sehen. Dr. Pintus sei am Ende der Kolonne gegangen und dabei zurückgeblieben. Später habe er ihn nicht mehr gesehen. Eine weitere Information geht dahin: Ein damaliger Wachmann habe sich gebrüstet, Dr. Pintus erschlagen oder erschossen zu haben. Der Todestag war der 13. 11. 1938.
36 Wilhelm Künzler berichtet, dass er seinerzeit als politischer Häftling im alten Zellenbau, in der Zelle Nr. 102 gelegen und von dort aus die Arbeiten an die Mauer, der mit Steinen von der Synagoge erhöht worden sei, beobachtet habe. Unterlagen bezüglich dieser Bauarbeiten sind bei der Verwaltung der Strafvollzugsanstalt Ludwigsburg nicht mehr vorhanden.
37 Es wird berichtet, dass die wegen ihrer Unerschrockenheit bekannt gewordene Ärztin Dr. Welsch Frau Helene Pintus, Ehefrau des Dr. Walter Pintus, als dieser verhaftet worden war, umfängliche Bandage und Verbände angelegt und sie für transportunfähig erklärt habe.
38 Im Neuen Israelischen Friedhof von Ludwigsburg ist der Name Max Elsas auf dem Grabstein seiner Frau aufgezeichnet.

Image

2013 fand der Vortrag im Raum des Kunstvereins im „MIK“ inmitten einer Ausstellung des chinesischen Papier-Künstlers Li Hongbo statt. Der Vortrag war Teil des umfangreichen Programms zur Finanzierung des geforderten Bürgerschafts-Anteils an den Renovierungskosten für den Synagogenplatz.


Notwendige Cookies zulassen