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2024
Rahel-Straus-Preis 2024 für den Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz
Mazen Mohsen sorgte für einen würdigen und ansprechenden musikalischen Rahmen – unter anderem mit einer Hymne auf die Freiheit und liebevolles Miteinander.
Landtagsvizepräsident Daniel Born überzeugte mit einer motivierenden Rede über die Notwendigkeit, politische Dramen in Erinnerung zu behalten.
Mitglieder des Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz bekamen von Wolfgang Dästner den Rahel-Straus-Preis auf dem Synagogenplatz in lyrischer Form zugeeignet.
Schülerinnen und Schüler der Jerg-Rathgeb-Schule aus Herrenberg berichteten von ihren Aktivitäten im Rahmen der Toscano-Ausstellung und danach.
Der Nachmittag auf dem Synagogenplatz war ein tolles Ereignis. Es zeigte sich, wie vielfältig und lebendig ein sorgfältiger Umgang mit der Vergangenheit sein kann.
Für ihre gegenwartsbezogene Erinnerungsarbeit haben der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz und der Förderverein Synagogenplatz Ludwigsburg am 20. Juni den Rahel-Straus-Preis bekommen. Der Preis wird verliehen vom Verein „Gegen Vergessen. Für Demokratie“ Baden-Württemberg und unterstützt von der Berthold Leibinger Stiftung.
Birgit Kipfer, die Sprecherin des Vereins, neben Ludwigsburgs Oberbürgermeister Matthias Knecht und Isabel Schwab von der Berthold-Leibinger-Stiftung auch Daniel Born, als Redner begrüßen, den Vizepräsidenten des Landtags von Baden-Württemberg. Er unterstrich lebendig und anschaulich die Bedeutung von Erinnerung an die dramatische Geschichte in der Zeit der Nazi-Diktatur. Die Koffer-Skulpturen auf dem Synagogenplatz seien da ein wichtiges Bild in der Öffentlichkeit – als Erinnerung und als Mahnung. Da aktuell rechtsradikale Kräfte davon träumten, dass Millionen Menschen wieder ihre Koffer packen müssten, sei die Zivilgesellschaft gefordert. Und sie sei bereit, aus der Geschichte zu lernen: „Wir lassen uns die Demokratie nicht wegnehmen!“
Bei der Preisverleihung konnte
Jochen Faber, Frank Hofmann und Anne Kathrin Müller Grundsätze und einzelne Projekte ihrer Arbeit (siehe unten).
Für dem Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz beschrieben
Herrenberger Jerg-Rathgeb-Realschule ausgezeichnet. Sie hatten im Herbst 2023 eine Ausstellung mit künstlerischen Fotos von Überlebenden des Holocaust veranstaltet. Als Bilder der Ausstellung mit Nazi-Symbolen beschädigt wurden, gaben sie nicht auf, sondern verstärkten ihr Engagement für Aufklärung. Sie qualifizierten sich zu Ausstellungs-Guides und brachten die Geschichte hinter den großformatigen Bildern von Luigi Toscano einer wachsenden Schar von Interessierten nahe (hier ein Link zu einem Bericht aus der Zeit der Ausstellung).
Gleichzeitig mit der Ludwigsburger Initiative wurden Jugendliche aus der
Dr. Rahel Straus (1880 in Karlsruhe geboren, gestorben 1963 in Jerusalem).
Der Preis ist benannt nach der Ärztin und PolitikerinEinen aufschlussreichen Lebenslauf von Rahel Straus gibt es auf der Seite „Demokratiegeschichten“, geschrieben von Wolfgang Dästner > Link
Über die Aktivitäten des Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz
So präsentierten Mitglieder der Initiative Inhalte und Formen ihres Engagements bei der Verleihung des Rahel-Straus-Preises
Der Synagogenplatz ist ein Platz der Trauer und des Respekts vor den jüdischen Ludwigsburgerinnen und Ludwigsburgern, die vom Terror ihrer Nazi-Mitbürger verfolgt wurden.
Der Synagogenplatz ist ein Platz der Menschenrechte , die nach dem Ende der Diktatur ins Grundgesetz geschrieben wurden.
Der Synagogenplatz ist ein bürgerschaftlicher Platz geworden. Seit etwa 15 Jahren ist der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz die offene Plattform , die Interessierten zur Mitarbeit offensteht – ganz in dem Umfang, den man selbst für passend hält. Der Förderverein Synagogenplatz ist das Werkzeug dieses Engagements, wenn es eine offizielle Struktur braucht.
Auf dem Synagogenplatz finden Veranstaltungen statt, die Informationen und Diskussionen in die Stadt tragen, auch mit Hilfe unserer umfangreichen Internetseite und vielfältiger Öffentlichkeitsarbeit.
Wir hatten grandiose Unterstützung von überlebenden jüdischen Ludwigsburger:innen wie Miriam Weiss oder Harry Grenville , die auf dem Platz und in persönlichen Kontakten ihre Geschichte für die heutigen Bürgerinnen und Bürger der Stadt erlebbar gemacht haben.
Wir hatten wundervolle engagierte Mitstreiter:innen wie Albert Sting , Susanne Müller und Uwe Müller oder Werner Unseld , die gestorben sind.
Wir haben tolle aktive und passive, ältere und jüngere Unterstützer:innen aus verschiedenen Bereichen der Bevölkerung und in zahlreichen Gruppen und Institutionen, die sich beteiligen und die aus den Anregungen und Angeboten, die vom Synagogenplatz ausgehen, bürgerschaftliche Diskussionen machen. Im Idealfall werden diese Diskussionen Teil bürgerschaftlicher Entwicklungen.
Wir sind sichtbar und hörbar in der Stadt. Wir stehen für die Erinnerung und die Menschenrechte ein, auch ganz konkret in Ludwigsburg. Wir treten allen Ideen energisch entgegen, diese Rechte für bestimmte Menschengruppen einzuschränken. Unsere Veranstaltung zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes stand unter dem Motto „Wir haben viel zu feiern und viel zu verteidigen“. Das und noch mehr tun wir gerne und beherzt. Wir verteidigen die solidarische, demokratische Gesellschaft , die wir auch im Engagement um den Synagogenplatz erleben – und wir feiern sie!
(Jochen Faber)
Guten Tag, mein Name ist Frank Hofmann und ich möchte Ihnen von einer Aktion erzählen, die wir im Oktober 2021 (hie auf dem Synagogenplatz gemacht haben.
2021 gab es die bundesweite Kampagne „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ . Wir in Ludwigsburg hatten uns schon lange vorher Gedanken darüber gemacht, wie wir hier in angemessener Form teilnehmen können. Ich war sehr glücklich über diese Kampagne – und zwar wegen des Titels: jüdisches LEBEN.
Denn bei allem Gedenken, Erinnern und Aufarbeiten sollten wir meines Erachtens doch nicht vergessen, dass am Ende – oder am Anfang – das LEBEN steht. Oder – wie es jüdische Freunde ausdrücken etwas provozierend würden – Judentum ist nicht nur Klezmer, es ist auch Heavy Metal.
Und ich finde, es passt sehr gut, das Thema auf dem Platz zu feiern, auf dem das jüdische Leben einmal pulsierte – dem Platz der Synagoge.
So kamen wir auf die Idee, hier auf dem Synagogenplatz eine Film-Nacht zu machen. Ein Open Air Kino mit Live-Musik, Podiumsdiskussion und Publikumsbeteiligung.
Wir zeigten den Film Masel Tov Cocktail , der auch noch von einem Absolventen der Ludwigsburger Film-Akademie gemacht worden war. Und dieser Regisseur Arkadij Khaet war an diesem Abend auch anwesend! Wahrscheinlich kennen viele von ihnen diesen Film. Es erzählt von einem jungen jüdischen Mann in Deutschland und schildert auf sehr originelle, treffende und auch lustige Art die Schwierigkeiten eines jungen Menschen, der eigentlich nur eines sein will: ein junger Mensch! Und der nicht ständig auf seine Religion angesprochen werden möchte, der nicht für alles Mögliche verantwortlich gemacht werden möchte und mit Vorurteilen aller Art kämpfen möchte, mit negativen und positiven!
Wir haben für diesen Abend noch mehr Gäste eingeladen. Da war zum Beispiel Anna Weiler , die Präsidentin der jüdischen Studierenden-Union in Deutschland . Sie konnte uns sehr deutlich und lebendig erzählen, was jüdisches Leben in Deutschland heute ist.
Und wir haben die jungen Leute von Lubu Beatz eingeladen – das sind junge Menschen mit teils sehr intensiven Biografien, die in einem Projekt Rap und Hip-Hop-Musik machen. Sie haben an diesem Abend für uns gespielt. Überhaupt waren viele junge Menschen beteiligt, besonders erwähnen möchte ich noch die Jugendgruppe der islamischen Gemeinschaft Ludwigsburg, die mit ihrem Imam hier war, sich den Film angesehen hat und sich auch in der Diskussion beteiligt hat.
Der Abend war ein toller Erfolg. Der Platz war voll. Wir mussten sogar etwas später anfangen, weil wir tatsächlich noch Stühle nachbestellen mussten (ein guter Grund für eine Verspätung!).
Es war ein Abend im Oktober. Das Wetter hat auch mitgespielt, auch wenn es gegen Ende schon richtig kalt wurde und ein Kollege des Integrationsrats mir Tage später gesagt hat, dass er sich an diesem Abend eine richtige Erkältung eingefangen hat.
Aber auch selbst wenn es so war, das war’s wert.
(Frank Hofmann)
Sehr geehrte Damen und Herren, im Arbeitskreis Synagogenplatz sind wir der Meinung, dass sowohl Gedenken als auch Grundgesetz alle angeht. Und wenn wir alle sagen, meinen wir auch alle – ganz egal wie alt wir sind, egal wo wir her kommen, egal, was unsere soziale Herkunft, unsere geschlechtliche Identität, unsere sexuelle Ausrichtung usw. ist. Wir meinen ALLE, die in unserem vielfältigen Ludwigsburg leben.
Wie Frank Hoffmann gerade schon sagte: Es geht um das Gedenken, aber es geht auch um das Leben.
Wir versuchen deshalb, bei Grundgesetz- und bei Gedenkfeiern zu zeigen, WARUM es wichtig ist, zu gedenken und was das mit uns heute und unserer Zukunft zu tun hat und auch, verschiedene Perspektiven zu beleuchten.
So haben wir das auch an der Gedenkfeier im November 2023 gemacht. In einer Situation, wie Sie alle erinnern, die nach dem 07. Oktober auch in Deutschland aufgeladen war. Selten haben wir uns so eng vor einer Veranstaltung abgestimmt, selten waren wir so angespannt, selten waren aber auch so viele Menschen bei der Gedenkfeier.
Wir spielten eine Videobotschaft von Dr. Blume, Beauftragter des Landes gegen Antisemitismus ein, wir hörten einen Zeitzeugen des Brandanschlags auf die Synagoge hier in Ludwigsburg. Neben Oberbürgermeister Dr. Knecht haben wir David Holinstadt von der Israelitischen Religionsgemeinschaft und Derya Sahan von der Fachstelle Extremismusdistanzierung auf das Podium eingeladen. Motto der Veranstaltung „Das wird man doch wohl sagen dürfen – und was wir dem entgegnen müssen“ .
Ziel war es zu zeigen, dass wir im Heute die Verantwortung tragen dafür, dass sich die Greueltaten der Nazizeit nicht mehr wiederholen. Und auch wie wir uns gegen Rassismus und Antisemitismus in unserer nächsten Umgebung stellen können, zu zeigen, was jeder und jede von uns tun können. Wir stellten uns damit auch in eine Reihe mit Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland der sagte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder angegriffen und Angriffe auf sie gefeiert werden. Wir dürfen aber auch nicht zulassen, dass Rassisten die Situation ausnutzen und in falscher Solidarität mit Jüdinnen und Juden ihren antimuslimischen Rassismus ausleben. Als Demokratinnen und Demokraten dürfen wir uns nicht spalten lassen.“
Soweit so gut, könnte man meinen. Warum erzähle ich Ihnen das? Selten haben wir auch im Nachgang zu einer Veranstaltung so viel Kritik erhalten. Warum? Unter anderem weil eine Frau mit Kopftuch, ihres Zeichens außerdem noch ausgewiesene Expertin für Extremismusdistanzierung, bei der Gedenkveranstaltung sprechen durfte. Selten waren wir also auch so irritiert nach einer Veranstaltung und haben im Nachgang so viel besprochen. Aber: Wir lassen uns nicht beirren darin, zu gedenken, die Verbindung von Vergangenheit mit der Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft zu betonen. Und zwar für alle und mit allen. Denn es geht um Gedenken, um die Lehren daraus, um unsere Demokratie und um unsere Verantwortung. Es geht um Leben.
(Anne Kathrin Müller)
Grundgesetz-Fest 2024: Viel Demokratie wagen!
Der Arbeitsplatz Dialog Synagogenplatz organisierte für den 23. Mai 2024 ab 18 Uhr eine Geburtstagsfeier für das Grundgesetz – denn die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland wurde an diesem Tag 75 Jahre alt.
Aus diesem Anlass belegten Menschen aus Ludwigburg, wie gut das Grundgesetz ist – wie gut sich auf dieser Grundlage die eigene Persönlichkeit entfalten lässt, wie wichtig Kultur und Pressefreiheit sind, wie sehr es sich lohnt, gründlich hinter die Kulissen der Nazi-Verbrechen zu schauen und auch aktuelle Konsequenzen daraus zu ziehen.
• Penda Gueye, Ludwigsburger Schülerin aus einer Einwanderer-Familie, beschrieb, wie sie ihr Leben durch die Freiheiten gestalten kann, die das Grundgesetz garantiert.
• Susanne Mathes, Journalistin in Ludwigsburg, erläuterte die Bedeutung der Pressefreiheit und der Informationsfreiheit (die auch bedeutet, Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können).
• Hans Pöschko vom Förderverein Zentrale Stelle stellte die Bedeutung dieser Ludwigsburger Ermittlungsstelle von NS-Verbrechen für das Geschichts-Bewusstsein im Land und die Wahrnehmung von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit bei jungen Menschen dar.
• Bettina Gonsiorek, Leiterin der Tanz- und Theaterwerkstatt Ludwigsburg, sprach über die gesellschaftliche Bedeutung von Kultur – und die Notwendigkeit, ihren Freiraum auch in Zeiten knapper Mittel zu stärken.
• Schüler:innen des Ludwigsburger Goethe-Gymnasiums beschrieben gemeinsam mit einem Austausch-Schüler vom Lycée Robert Schuman in Hagenau, wie das friedliche Zusammenleben der Völker ganz praktisch im Alltag entwickelt werden kann.
• Musikalisch gestaltet wurde die Feierstunde Dennis Müller – Profi-Pianist und Pfarrer an der Ludwigsburger Friedenskirche –, dem Sänger Tobias Lampert und Juliane Mangold mit ihrer Handpan.
Mit dieser Veranstaltung verband der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz den verstärkten Aufruf, an der der Kommunal- und der Europawahl am 9. Juni teilzunehmen und demokratische Listen zu stärken.
DANKE an alle Beteiligten – die mitgewirkt haben, die da waren und die, die das Grundgesetz im Alltag immer wieder bewusst machen. Denn wir haben viel zu feiern und wir haben viel zu verteidigen.
Grundgesetz,
wo stand deine Wiege?
Wo kamst du zur Welt?
Grundgesetz,
du bist der Republik
so friedliebend vorangestellt.Du sicherst jedem Menschen,
der hier mit andren lebt
und friedlich leben möchte,
alle Würde,
alle Freiheit,
alle Menschenrechte.Deine Wiege stand
nicht auf Herrenchiemsee,
– Insel, Schloss und Tagungsort – .
Und bei den ausgestopften
Tieren im Bonner Museum?
Nein, sie stand nie dort.Deine Wiege, Grundgesetz,
stand damals schon bei allen,
die Nachbarn war’n und doch
ausgegrenzt war’n und verfolgt
und massakriert – in deren Wohnung
steht deine Wiege heute noch.Deine Wiege, so wie du,
steht auf den Plätzen der Zerstörung,
wo Bosheit herrschte, Hass und Streit.
Da standest du, da stehst du,
gibst allen Schutz und brauchst doch immer
von allen neue Wachsamkeit.Die immer wieder gestellte Frage, warum das Grundgesetz ausgerechnet auf dem Synagogenplatz gefeiert werde, beantwortete Moderator Jochen Faber mit diesem Gedicht.
7.000 Menschen stehen für Demokratie und Vielfalt. Die Enthüllungen über die Deportations-Phantasien von Rechtsradikalen einschließlich der AfD bringen im Januar 2024 Hunderttausende von Menschen in Deutschland auf die Straßen. Alleine in Ludwigsburg kamen am 28. Januar 2024 rund 7.000 Menschen zusammen, um für Demokratie und Vielfalt zu demonstrieren.
Auch der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz war mit einem Beitrag vertreten. Der Text ist hier zu finden…
Vertreter:innen der Stadt Ludwigsburg, des Arbeitskreis Asyl, des Bündnis für Vielfalt, des Hotel- und Gaststättenverbands für die Wirtschaftstreibenden im Kreis, der IG Metall und der Gewerkschaft VerDi sowie die Bundestagsabgeordneten von CDU, Grünen und SPD waren auf Initiative der Grünen-Landtagsabgeordneten Silke Gericke dabei.
Empört euch! Engagiert euch!
Redebeitrag auf der Ludwigsburger Kundgebung für Demokratie und Vielfalt vom 28. Januar 2024
Eine Nachbarin von mir bekam im November Post, dass sie nach Stuttgart kommen muss. Dort wurde sie dann mit vielen anderen zusammen in Eisenbahnwagen gesteckt und weggefahren, deportiert, nach Riga – und dort ermordet.
Meine Nachbarin, das ist – ein Beispiel von furchtbar vielen – Jenny Henle aus der Myliusstraße 6, sie war Jüdin. Dieser November, das war der November 1941. Den Plan, dass irgend eine Gruppe von Menschen aus Deutschland fort soll, den gab es hier bekanntlich schon mal. Und dieser Plan wurde grausamst ausgeführt.
Jetzt, im November 2023, haben sich Leute aus dem rechtsradikalen Milieu in Potsdam getroffen – Neonazis, hochrangige AfD-Politiker, Unternehmer – und haben Pläne gemacht, wie man bestimmte Gruppen von Menschen aus Deutschland vertreiben kann. Millionen von Menschen. Wenn ich mir das vorstelle, diese Ignoranz, diese Überheblichkeit, diesen völkischen Schwachsinn, könnte ich den ganzen Tag schreien.
Diese Pläne sind skandalös. Unanständig. Unmenschlich. Wir tun nun genau das, was der französische Diplomat und Autor Stéphane Hessel mit über 90 Jahren mit Blick auf die Finanzkrise von 2008 gefordert hat: „Empört euch!“ So hieß ein Aufruf von ihm, ein schlankes Büchlein. Wir empören uns. Hessel war in Frankreich im Widerstand gegen die Nazis gewesen und hatte das KZ Buchenwald überlebt. 2013 ist er gestorben. Garantiert würde er uns heute wieder aufrufen: „Empört euch!“
Stéphane Hessel brachte dann noch einen zweiten Band heraus: „Engagiert euch!“ Und dieser zweite Gedanke ist so wichtig wie der erste. Wenn wir nach der Empörung weitermachen wie vorher, hat sich zu wenig verändert – und es muss sich mehr ändern.
Wenn wir einen alten Luftballon mit miefiger Luft drin in ein Vakuum setzen, wird er groß und prall. Genau das passiert in letzter Zeit. Wir haben ein zu großes Vakuuum in Sachen Engagement. Alles was wir tun, ist ganz offensichtlich noch nicht genug. Das miefige bisschen Luft im rechtsradikalen Ballon dehnt sich unmäßig aus.
Das ist für jede von uns, für jeden von uns die Aufgabe: „Engagiert euch!“ Seid sichtbar, seid wirksam. Widersprecht der Gleichgültigkeit, wo immer ihr sie trefft. Es ist nicht egal, ob die AfD in Parlamenten sitzt und dort ihre Propaganda verbreitet oder oder ob sie gar Entscheidungen gestalten kann.
Widersprecht, wenn ihr Sprüche hört, in denen einzelne Menschengruppen zu Hassobjekten degradiert werden. Wenn einer bestimmten Gruppe von Menschen die Menschenrechte abgesprochen werden. Widersprecht, wenn Menschen aus eurem Umfeld die AfD stark quatschen, weil sie die Arbeit der Bundesregierung zu schlecht finden.
Engagiert euch für Demokratie, engagiert euch für Vielfalt! Es gibt so viele Themen und so viele Organisationen, die beherztes, sichtbares Engagement brauchen.
Ihr könnt wirklich Wichtiges tun – und das bereichert nebenbei auch noch euer Leben.
Dass ihr heute hier seid, bedeutet: Ihr empört euch. Mega gut! Macht auch den zweiten großen Schritt: Engagiert euch noch mehr als bisher! Empört euch UND engagiert euch!
Jochen Faber, Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz
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2023
Rückblick: 10. November 2023 – Aufruf zu Zivilcourage
Nie wieder ist jetzt - dafür tragen wir alle die Verantwortung. Wie kann uns es gelingen, dieser Verantwortung vor den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden? Wie können wir klare Haltung zeigen und trotzdem den Dialog suchen? Unter diesen Fragestellungen stand die Gedenkveranstaltung am 10. November 2023 anlässlich des 85. Jahrestages der Novemberpogrome und des Brandanschlages auf die Ludwigsburger Synagoge. Der Abend wurde moderiert von Anne Kathrin Müller vom Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz.
„Selten haben wir im unserem Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz im Vorfeld so viel gesprochen und uns ausgetauscht - auch über unsere Emotionen zu den aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten und den gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und in unserer Stadt besprochen. Selten waren wir vor einer Veranstaltung so besorgt.
Wir sind froh, uns für ein Format entschieden zu haben, das der Opfer gedenkt und gleichzeitig uns etwas an die Hand gibt, um aufzustehen gegen ein „das wird man ja wohl noch sagen dürfen", gegen eine Verschiebung des Diskurses nach rechts.
David Holinstat, Vertreter der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, Derya Şahan, FEX - Fachstelle Extremismusdistanzierung, Matthias Knecht, Oberbürgermeister der Stadt Ludwigsburg und (per Videoeinspielung) Dr. Michael Blume, Beauftragter des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, waren sich einig:
• Die Situation ist besorgniserregend. Besonders eindrücklich berichtete David Holinstat, dass er sich Sorgen macht um seine Zukunft.
• Aber es gibt Möglichkeiten. Klare Kante zeigen gegen Antisemitismus, Verschwörungstheorien und trotzdem in den Dialog gehen.
• Das setzt voraus, selbst informiert zu sein. Nicht nur über Antisemitismus und Rassismus, sondern auch darüber, wie Extremismus funktioniert und wie er in den sozialen Medien wirkt.
• Sich zivilgesellschaftlich engagieren, auf eine Demo gehen, Gesicht zeigen und manchmal einfach auch nur den informierten Dialog suchen, im engsten Umfeld, der Familie damit beginnen aufzuklären oder unter Hasskommentare im Internet andere Meinungen posten damit die Demokrat*innen lauter bleiben als der Rest.
Wir alle waren uns einig: Es gibt Grund zur Hoffnung. Rund 400 Menschen besuchten die Veranstaltung. Wenn alle von ihnen die kleinen Strategien weiter tragen, dann können wir gemeinsam aufstehen gegen ein „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, dann können wir die Demokratie mit gestalten und die Gesellschaft ganz konkret hier vor Ort solidarischer und fairer machen.
Ein gutes Beispiel dafür lieferten am Ende der Veranstaltung Dr. Martin Wendte (Pfarrer der Citykirche und Mitglied im Dialog der Religionen) und Frank Hofmann (Integrationsrat und Dialog der Religionen) mit der gemeinsamen Erklärung gegen Antisemitismus und Rassismus, die die Ludwigsburger Religionsgemeinschaften unterzeichnet haben.
Danke an alle für das gemeinsame Gedenken, für klare Haltung, Strategien, Inspiration fürs Handeln und flammende Reden für die Demokratie!
Plakatmotiv zum 10. November 2023
Rund 400 Menschen kamen am 10. November 2023 auf den Ludwigsburger Synagogenplatz.
So voll war der Synagogenplatz selten – die heikle politische Lage führte viele Menschen zusammen.
Derya Sahan, David Holinlstat, Anne Kathrin Müller und Dr. Matthias Knecht diskutierten und motivierten.
Rückblicke auf die Grundgesetz-Feier auf dem Synagogenplatz am 23. Mai 2023
Auf etwa eine halbe Stunde zusammengefasst: Die starke Veranstaltung zum Grundgesetz-Geburtstag auf dem Ludwigsburger Synagogenplatz am 23. Mai 2023. Mit Kulturwelt Ludwigsburg und der Akademie für Darstellende Künste, mit LUBU Beatz und Anne Kathrin Müller vom Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz als Video.
Wenn das Grundgesetz Geburtstag hat, ist das für die Menschen vom Arbeitskreis „Dialog Synagogenplatz“ in Ludwigsburg ein Grund zum Feiern – denn die Grundrechte in der deutschen Verfassung sind die kluge Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik und die dramatischen Verbrechen der Deutschen unter der Nazi-Fahne, zu deren Hinterlassenschaft auch der leere Synagogenplatz gehört.
In diesem Jahr haben wir den Grundgesetztag am 23. Mai mit spannenden Fragen gefeiert: Die Würde des Menschen ist unantastbar und um diese zu erhalten, wurden viele Gesetze in den zurückliegenden Jahren verabschiedet, viele Fortschritte in der Sozialgesetzgebung erreicht. Und trotzdem müssen immer wieder Menschen um ihre Würde kämpfen. Was sagt das über unser Grundgesetz aus? Ist unser Grundgesetz und sind die darauf aufbauenden Gesetze „in guter Verfassung“, wenn es um soziale Sicherung geht? Und was ist dabei unsere Rolle als Bürger*in?
Anne Kathrin Müller stellte in ihrer Moderation die Zusammenhänge zwischen dem Grundgesetz und dem Leben der einzelnen Menschen, beispielsweise in Ludwigsburg, her. „Kulturwelt Ludwigsburg“ stellte mit Unterstützung der „Akademie für Darstellende Kunst“ in berührenden Szenen Biografien von Menschen aus Ludwigsburg vor, denen würdige Lebensbedingungen nicht ohne weiteres möglich sind. Anonymisiert und verfremdet, aber wahr. Musikalische Beiträge kamen von „LUBU beatz“.
Die Verantwortung für die Umsetzung des Grundgesetzes liegt bei den Institutionen der öffentlichen Hand, betonte Anne Kathrin Müller – und bei jeder Bürgerin, jedem Bürger. „Das Grundgesetz ist in unserer Verantwortung –“, zitierte sie den Schlusssatz der Kulturwelt-Szenen, „durch Engagement, aber auch durch unsere Teilnahme an Wahlen übernehmen wir diese Verantwortung.“ Große Fragen blieben zu klären – beispielsweise die Verteilung des Eigentums. „Ich kann Ihnen versichern: Am 23. 5. ’24 sind wir wieder hier!“.
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2022
Rückblick: 10. November 2022 – Erinnerungen an jüdisches Leben in Ludwigsburg
Synagogenplatz > Stadtbad > Stadtarchiv
18:00 Uhr · Synagogenplatz Musik: Duo Aquivocae Arlette Probst, Fagott – Gabriele Lesch, Gesang
Ansprache: Erste Bürgermeisterin Renate Schmetz: Erinnern, Betrauern, Mahnen.
18:25 Uhr · vor dem Stadtbad Präsentation: Skandal ab 1934: „Juden ist der Zutritt und die Benützung des Stadtbads verboten“
18:45 Uhr · Stadtarchiv · Mathildenstraße 21 Ausstellungseröffnung: „Relikte jüdischen Lebens in Ludwigsburg“
Es gibt nur noch wenige Erinnerungstücke, die Zeugnis vom jüdischen Leben Ludwigsburgs ablegen. In einer kleinen Ausstellung werden sie erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
20:00 Uhr · Friedenskirche Interreligiöses Konzert für den Frieden
Duo Aquivocae – Arlette Probst, Fagott · Gabriele Lesch, Gesang: Gedichte von Kindern aus dem Konzentrationslager Theresienstadt, vertont von der jüdischen Komponistin Lori Laitman
Martin Stortz (Flügel): „Was zurückbleibt, darf nicht vergessen werden“ von Michael Schultheis, Komponist für Neue Musik, Lehrer und Referent für kirchliche Komposition
Alle drei Musiker*innen als Trio: „Wirst Du mich (= Deinen Nächsten) lieben?“ Musik der muslimischen Komponistin Selena Ryan
Eintritt frei, Spenden sind willkommen · eine Veranstaltung der Evangelischen City-Kirche Ludwigsburg
Rückblick auf die Veranstaltung am 23. Mai 2022:
Das Grundgesetz und die Sehnsucht nach Frieden
Die Grundgesetz-Feier am 23. Mai 2022 – hier ist eine Video-Zusammenfassung der Veranstaltung für alle, die nicht dabei sein konnten. Wenn die Verfassung Geburtstag hat, ist das ein Grund zu feiern. Wenn gleichzeitig in brutaler Krieg in Europa geführt wird, ist das ein Grund, nachdenklich zu feiern. Dank der Aktiven im Arbeitskreis „Dialog Synagogenplatz“ und dank der Gäste und Programmpunkte ist das bestens gelungen und konnten der öffentlichen Diskussion in der Zivilgesellschaft gute Beiträge hinzugefügt werden.Wegen einer Sturmwarnung des Deutschen Wetterdiensts fand die Veranstaltung kurzfristig im Foyer des benachbarten Friedrich-Schiller-Gymnasium statt.
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2021
Am 10. November – dem Tag, an dem in Ludwigsburg die Synagoge abgebrannt wurde – warb 2021 die Erste Bürgermeisterin Renate Schmetz dafür, sich heute für Menschlichkeit einzusetzen in Erinnerung an die Verbrechen des Nazi-Regimes.
Michael Kashi, der in Tel Aviv geborene Jude, der seit 1968 in Deutschland lebt, hier ein erfolgreicher Unternehmer war und hoch engagiert bis heute ist im Aufbau jüdischen Lebens, eines jüdischen Sportvereins, des forums jüdischer kultur berichtete frei sprechend aus seinem Leben voller Abenteuer und spannender Wege.
Er berichtete, wie ihm Jüdinnen und Juden in Israel und in Deutschland von der Ermordung ihrer Angehörigen erzählten. Ein Mann hatte ihm berichtet, wie er als Jugendlicher mit der ganzen Familie im Viehwaggon verschleppt wurde. Der Zug hielt, „Aussteigen“, die fitten Männer nach rechts, der Rest nach links, und während die fitten Männer weitergehen und dann zurück in den Zug, ermorden die Soldaten mit Maschinengewehre alle anderen – auch die ganze Familie des Mannes, von dem Michael Kashi erzählte. Die Eltern, die Großeltern, die jüngeren Geschwister. „Ich erzähle es, damit diese Menschen nicht vergessen werden – denn wenn ein Mensch vergessen wird, stirbt er ein zweites Mal.“10. November 2021: Erinnerungen an Exil und Heimat
Am 10. November – dem Tag, an dem in Ludwigsburg die Synagoge abgebrannt wurde – führten 2021 Angehörige von Max und Eva Neiman wichtige Stationen aus dem Leben der Geschwister auf. Im Kulturzentrum Ludwigsburg (KUZ) wurde durch Diana Kölz, Constanze Kölz und Julia Holden mit der Unterstützung vieler Musiker*innen aus der Region erlebbar, wie aus einer friedlichen Berliner Jugend ein dramatisches Stück Weltgeschichte wurde. Die Veranstaltung wurde von der Volkshochschule Ludwigsburg in Kooperation mit dem Förderverein Synagogenplatz organisiert.
Das perfekte Open-Air-Kino – im Oktober! Auf dem Ludwigsburger Synagogenplatz lief am 7. Oktober 2021 der grandiose Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“, Regisseur Arkadij Khaet war da, Anna Veiler von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg und Mathieu Coquelin (Fachstelle Extremismusdistanzierung Baden-Württemberg), im Publikumsgespräch moderiert von Martin Wendte. Und es gab sehr starke Musikauftritte von Lubu Beatz, die von Frank Hofmann moderiert wurden. Die Diskussionen über das Leben von Jüdinnen und Juden im heutigen Deutschland waren beherzt und aufschlussreich. Das Publikum war nicht nur zahlenstark und jung, sondern auch neugierig und aufgeschlossen. Der Eintritt war frei, die Rede war frei – und niemand verzapfte judenfeindliche Parolen. Wie gesagt: Das perfekte Open-Air-Kino.
25. Septmber 2021: Zum Tod von Werner Unseld
Werner Unseld hat vielen seiner Mitmenschen viele Anregungen gegeben. Manche mögen es als Provokation empfunden haben, viele haben es sofort als Bereicherung erlebt. Vielen wird dabei gar nicht klar gewesen sein, dass Werner Unseld dahinter steckte, wenn sie ins Staunen oder ins Nachdenken kamen. Ende September ist er im Alter von 69 Jahren gestorben.Werner Unseld war Soziologe und Kulturwissenschaftler. Er sammelte Wissenswertes, bereitete es verständlich auf, stellte neue Zusammenhänge her und fügte nach sorgfältigem Nachdenken Eigenes hinzu. Er konzipierte Ausstellungen (legendär: „Zwischen Kanzel und Kehrwoche“) im Landeskirchlichen Museum, das von 1994 bis 2006 in der Ludwigsburger Friedenskirche war. Er war in der Leitung des Freilichtmuseums Beuren tätig. Er, der von der Ostalb kam und nie die Mundart verleugnete, sammelte Begriffe lokalen Dialekts in Fellbach und erschloss sie in einem Wörterbuch. In Ludwigsburg ist eines seiner Konzepte Teil des Stadtbilds geworden: Seit einigen Jahren wird mit Koffer-Skulpturen auf dem Synagogenplatz an die vertriebenen und ermordeten Jüdinnen und Juden der Stadt erinnert. Dies geht auf eine von Werner Unseld angestoßene Aktion von 1998 zurück. Da sammelten Engagierte alte Koffer und malten die Namen verfolgter jüdischer Nachbarinnen und Nachbarn darauf, stellten sie auf dem Marktplatz als temporäres Mahnmal auf und trugen sie in der Nacht zum 10. November auf den Synagogenplatz – 60 Jahre, nachdem Nazis und ihre Helfer die Ludwigsburger Synagoge in Brand gesteckt hatten.Ein Projekt ist noch nicht vollendet: In den letzten Jahren entwickelte Werner Unseld mit der Ludwigsburger Stolperstein-Initiative ein Konzept für ein Mahnmal am Neckartal-Radweg zwischen Remseck und Ludwigsburg. Unweit dieses Wegs waren in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Männer erschossen worden, weil sie als Deserteure oder Widerständler gegen die nationalsozialistischen Überfälle anderer Länder von Militärgerichten verurteilt worden waren.Werner Unseld engagierte sich für Projekte, die große Begriffe wie Humanismus und Solidarität in die Sprache des Alltags übersetzten. Dabei setzte er sich nicht nur für große Vorhaben ein. Im Ruhestand hatte er auch kleinere Aufgaben übernommen, um beispielsweise in der Stolperstein-Initiative oder im Arbeitskreis „Dialog Synagogenplatz“ inhaltliche und organisatorische Beiträge zu leisten. Wenn Ideen oder Initiativen aufkamen, nahm er sich gerne Zeit, um Dinge konsequent zu durchdenken und kritisch zu bewerten. Wenn er dann eine Position vertrat, konnten alle Beteiligten sich sicher sein, dass sie ebenso herzlich wie klug abgewogen war. Das Ergebnis konnte auch sein, dass er eine zunächst attraktiv scheinende Idee unter Gleichgesinnten bremste. Sein freundliches Wesen ermöglichte andererseits auch Menschen, die sich gesellschaftlich ganz anders positionierten, den Zugang zu seinen Gedanken.
23. Mai 2021: Das Grundgesetz feiern
Das Grundgesetz ist die kluge Antwort auf die Verbrechen, die Deutsche in der Zeit des NS-Regimes begangen haben. Darum feiern Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz und Förderverein Synagogenplatz Ludwigsburg jährlich am 23. Mai das Grundgesetz mit seinen Menschenrechts-Artikeln.
Der Geburtstag des Grundgesetzes ist ein guter Anlass klar zu machen: Diese Verfassung schützt alle Menschen, die in Deutschland leben, gleichermaßen.
Bereits im vergangenen Jahr wurde bei einer virtuellen Feier des Grundgesetzes darauf hingewiesen, dass die vorübergehenden Einschränkungen von Grundrechten während der Corona-Bedrohung dem Schutz aller dienen, die ansonsten der tückischen Krankheit ausgeliefert wären.
In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt auf dem wunderschönen allerersten Satz des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und seiner, auch aus dem jüdischen Denken stammenden, Geschichte.Zum Grundgesetztag am 23. Mai 2021 – also im Jahr, in dem 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert werden – baten Arbeitskreis Dialog und Förderverein Synagogenplatz Ludwigsburg Prof. Micha Brumlik um eine Einschätzung, wie weit jüdische Denktraditionen im Grundgesetz stecken. Er konzentrierte sich auf den Schlüsselsatz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und legt im hier aufgezeichneten Vortrag dar, wie sehr der Begriff von der Würde des Menschen aus dem Jüdischen kommt.
Da die Veranstaltung in Ludwigsburg während der Hochphase der Corona-Epedemie virtuell stattfinden musste, wurde der Vortrag in Berlin aufgezeichnet – am Rand des Mahnmals für die ermordeten Juden Europas und mit Blick auf das Reichstagsgebäude, dem Sitz des deutschen Parlaments.Am 23. Mai jeden Jahres feiern Bürgerinnen und Bürger der Stadt Ludwigsburg das Grundgesetz auf dem Synagogenplatz (2021 virtuell, um die weitere Verbreitung des Covid-19-Virus zu unterbinden, und dieser Film ist einer der Beiträge zur Streaming-Veranstaltung). Die Erste Bürgermeisterin Renate Schmetz würdigte das Grundgesetz als eine wirksame Reaktion auf die Verbrechen von Deutschen während der NS-Zeit.
Der Akkordeonist Arseniy Strokovskiy spielt zum Grundgesetz-Geburtstag auf dem Ludwigsburger Synagogenplatz von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) „Lieder ohne Worte“:
Moderato A-Dur op. 19 Nr. 4 (MWV U 73)
Moderato h-moll op. 67 Nr. 5 (MWV U 184)
Andante C-Dur op. 102 Nr. 6 (MWV U 172)Der Akkordeonist Arseniy Strokovskiy spielt zum Grundgesetz-Geburtstag auf dem Ludwigsburger Synagogenplatz von Johann Sebastian Bach (1685-1750);
Sonata №1 für Klavier d-moll BWV 964; AndanteDer Akkordeonist Arseniy Strokovskiy spielt zum Grundgesetz-Geburtstag auf dem Ludwigsburger Synagogenplatz von Johann Sebastian Bach (1685-1750):
Sonate für Klavier №4 D-dur BWV 963
• Allegro Maestoso
• Largamente
• Allegro Moderato ed energicoEin Zitat von Micha Brumlik, am Rande der Dreharbeiten zu seinem Beitrag aufgenommen. Das wunderschöne Kompliment ans Grundgesetz machte in den digitalen Medien Werbung für die Veranstaltung am 23. Mai.
Wie weit haben sich die Menschenrechts-Artikel des Grundgesetzes aus jüdischer Weltsicht entwickelt? Welche Elemente der Grundrechte können auf geistige Ansätze und Entwicklungen jüdischer Denktraditionen zurückgeführt werden?
Ein Vortrag von Micha Brumlik, 1977 bis 2013 Professor in Hamburg, Heidelberg und Frankfurt am Main · 2000 bis 2005 Leiter des Fritz-Bauer-Instituts · Journalist und Publizist
Micha Brumlik
1947 geboren in Davos (Schweiz)
1967 bis 1969 Ulpan sowie Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem
1969 bis 1977 Studium der Pädagogik und Philosophie an der Goethe Universität Frankfurt. Nach diversen Assistentenstellen erste Professur an der Universität Hamburg 1977, sodann Professor an der Universität Heidelberg von 1981 bis 2000. Anschließend Professur an der Goethe Universität bis 2013. Seit 2013 emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main
2000 bis 2005 Leiter des Fritz-Bauer-Institut Frankfurt/Main (Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust und seiner Wirkung)
2013 Distinguished Harris Visiting Professor, Dartmouth College
2011 Übersiedlung nach Berlin, dort seit 2013 Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg
Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde Berlin
2016 „Franz Rosenzweig Gastprofessur“ an der Universität Kasseljüngste Publikationen:
Kritik des Zionismus · Hamburg 2007
Kurze Geschichte: Judentum · Berlin 2009
Entstehung des Christentums · Berlin 2010
Innerlich beschnittene Juden · Konkret Literatur Verlag, 2012
Messianisches Licht und menschliche Würde. Politische Theorie aus den Quellen des Judentums · Baden-Baden 2013.
Wann wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums · Berlin 2015 (Hg. mit Christina v. Braun)
Handbuch Jüdische Studien · Wien- Köln-Weimar 2018 (Hg. mit Christina v. Braun)
Preußisch, konservativ, jüdisch: Hans-Joachim Schoeps‘ Leben und Werk · Köln 2019
Hegels Juden · Berlin 2019; 100 Seiten
Antisemitismus · Ditzingen 2020Arseniy Strokovskiy
1990 in Moskau geboren · studierte Akkordeon an der Moskauer Staatlichen Musikhochschule Alfred-Schnittke · Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) an der Hochschule für Musik Würzburg · Preisträger vieler internationaler Wettbewerbe, unter anderem beim renommierten Akkordeonwettbewerb in Klingenthal.
Er gehört zu den Virtuosen, die das Akkordeon aus der Ecke schlichter Unterhaltungsmusik befreien. Wer ihn spielen hört, erlebt ein ganzes, beseeltes Orchester zwischen zwei Händen.Renate Schmetz
Renate Schmetz ist seit Anfang Mai die Erste Bürgermeisterin der Stadt Ludwigsburg. Sie wird ein Grußwort zur Grundgesetzfeier auf dem Synagogenplatz beitragen (in diesem Jahr ist es der virtuelle Synagogenplatz).
Die Tatsache dass bei der Brandstiftung Ludwigsburger Nazis in der hiesigen Synagoge der damalige Stellvertreter des Oberbürgermeisters, Ferdinand Ostertag, als Täter beteiligt und nach dem Ende der Nazi-Diktatur verurteilt wurde, unterstreicht: Es ist wichtig, dass die Menschen in einer Stadtverwaltung eindeutig für Grundrechte und Menschlichkeit eintreten. Die vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Stadt Ludwigsburg und ihre Vertreter*innen sich hier klar positionieren.-
2020
10. November 2020: Tag der Erinnung
Die Veranstaltung zum Tag, an dem sich die Brandstiftung in der Ludwigsburger Synagoge zum 72. Mal jährte, fand „hybrid“ statt: Die meisten Interessierten nahmen am Live-Stream auf dieser Internetseite teil, es waren etwas mehr als 200 Geräte, die zugeschaltet waren (und wir freuen uns über jedes, vor dem mehrere Personen zuschauten). Auf dem Synagogenplatz war lediglich ein improvisiertes Sendestudio aufgebaut. Von dort wurden vorbereitete Beiträge in den Stream geschickt. Und dort wurde live moderiert.
Dort wurde auch der Beitrag von Professor Frederek Musall, der als Zoom-Konferenz mit der Möglichkeit zu Rückfragen und Diskussion organisiert war, eingebunden.
Hier folgen auch die Videobeiträge des Termins: Konrad Seigfried, Erster Bürgermeister der Stadt Ludwigsburg, mit einem engagierten Grußwort • Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben sich für eine Video-Staffette corona-gerecht zur Verfügung gestellt • Diana Kölz aus Ludwigsburg liest aus den Jugenderinnerungen ihres später als Jude verfolgten Großonkels • Die Sängerin Izabela Barbu steuert selbst in Szene gesetzte Musikbeiträge vom Synagogenplatz bei.
9. November 2020: Schüler*innen trotz Corona aktiv
Das Ludwigsburger Friedrich-Schiller-Gymnasium setzte trotz der Corona-Einschränkungen ein Zeichen: Jüngere Schülerinnen und Schüler hatten durch bemalte Steine ihre Gefühle für die von Nazis verfolgten jüdischen Ludwigsburger*innen ausgedrückt. Und überwiegend ältere gestalteten eine Erinnerungs- und Informationsveranstaltung auf dem Synagogenplatz. Der 9. November – der Tag, an dem 1938 in den meisten Städten mit Synagogen die jüdischen Gotteshäuser von Nazis in Brand gesteckt wurden, kam dadurch vielen Beteiligten und Passantinnen und Passanten ins Bewusstsein. Dass die gesamte Veranstaltung unter den Vorgaben zur Bekämpfung der Corona-Pandemie stattfand, zeigte: Vernunft und Solidarität können gut gelingen.
9. August 2020: Zum Tod von Albert Sting
Die mit ihm zusammenarbeiten konnten, freuten sich über Albert Sting, seine Klugheit, sein Wissen und seine große Energie. Nun ist er im Alter von 96 Jahren gestorben und hinterlässt viel Dankbarkeit.
Albert Sting hat für die vorwärtsgewandte Erinnerungspolitik in Ludwigsburg Großes geleistet. Von seinem fundierten Wissen hat die Stadtgesellschaft vielfach profitiert, viele Initiativen und Projekte sind mit seinen Arbeiten und seinem Engagement eng verbunden.Als ein paar Dutzend Menschen sich 2007 im Saal des Ludwigsburger Staatsarchivs trafen, um über die Gründung einer Ludwigsburger Stolperstein-Initiative zu beraten, erweiterte Albert Sting die Diskussion um einen sehr spannenden Gedanken: Er formulierte die Gefahr, dass eine aktive und sich selbst finanzierende Stolperstein-Gruppe in Teilen der Stadtverwaltung und des Gemeinderats zu einer noch weiter nachlassenden Aktivität am Synagogenplatz führen könnte. Damit gab Albert Sting einen wichtigen Impuls für einige der Anwesenden, beide Themen parallel zu betreiben und darauf zu achten, dass das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden könne.
Durch seine aktive Mitarbeit im Förderverein Synagogenplatz Ludwigsburg, dessen stellvertretender Vorsitzender er trotz seines schon damals beträchtlichen Alters über viele Jahre hinweg war, hat er diesen Verein geprägt und durch historische und aktuelle Beiträge wieder und wieder bereichert.
Im Dezember 2015, als viel zu viele menschenfeindliche Aktionen sich in der Republik gegen Menschen richteten, die aus existenzieller Not nach Deutschland geflüchtet waren, griff Albert Sting sehr engagiert die Idee auf, in einer Videobotschaft seinen Standpunkt dazu zu formulieren. Angesichts der Brandstiftung in der Ludwigsburger Synagoge 1938 und aktueller Brandsätze gegen Unterkünfte von Geflüchteten fragte er: „Sind irgendwelche Menschen, die jetzt zu uns gekommen sind, unser Unglück?“ – ganz bewusst in Anlehnung an die Propagandasprache der Nazis. Und er widersprach energisch. Mit dem Nachdruck eines Mannes, der ganz bewusst nach seiner Militärzeit den Beruf eines Pfarrers ergriffen hatte, formulierte er „Jeder Fremde ist eine neue Entdeckung für uns“. Und er forderte von jeder und jedem, aktiv zu werden, „um den Anfängen zu wehren“.
Dass Albert Sting bei seinem Ausscheiden aus dem Vorstands-Amt des Fördervereins Synagogenplatz Ludwigburg die Ehrenmitgliedschaft verliehen bekam, war nicht nur eine formale Geste. Es war und bleibt Ausdruck des Respekts und der Dankbarkeit für so viel beherzten und klugen Einsatz.
Darüber hinaus sind alle historisch Interessierten in Ludwigsburg Albert Sting zu großem Dank verpflichtet für seine dreibändige „Geschichte der Stadt Ludwigsburg“, die eine kaum vorstellbare Menge von wichtigen und aussagekräftigen Quellen zum Geschehen in unserer Stadt zur allgemeinen Verfügung stellt.
20. Juni 2020: Black Lives Matter
Nachdem ein Polizist in den USA den Schwarzen George Floyd bei der Festnahme qualvoll getötet hatte, verbreitete sich über viele Länder eine Protestbewegung: „Black Lives Matter“. Auch in Ludwigsburg formierte sich ein breites und vielfältiges Bündnis und organisierte (unter Corona-Bedingungen) eine Kundgebung auf dem Rathaushof.
Der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz gehörte zu den Organisatoren: „Wer sich mit der Geschichte des Synagogenplatzes und seiner Menschen beschäftigt, muss aufstehen, wenn Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ausgegrenzt, ihrer Rechte beraubt und, wie im Fall von George Floyd, getötet werden“, so Jochen Faber bei der Eröffnung der Veranstaltung.4. Juni 2020: Sicherer Hafen Ludwigsburg
Der Förderverein Synagogenplatz Ludwigsburg unterstützt den fraktionsübergreifenden Antrag an den Ludwigsburger Gemeinderat, die Stadt Ludwigsburg zum Sicheren Hafen für aus Seenot gerettete Geflüchtete zu erklären – das teilt der Verein in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit dem „Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz“ mit.Die entsprechende Initiative der Organisation „Seebrücke“ entspreche „voll und ganz dem Anliegen des Fördervereins“, heißt es zur Erklärung. Denn der Förderverein setzte „sich dafür ein, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und an ihre Opfer wach zu halten.“ Und er setze diese Erinnerung in der Gegenwart in Engagement für die Menschenrechte um, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert werden..„Viele der im Nationalsozialismus verfolgten Menschen versuchten, unter anderem auf dem Seeweg, in sichere Häfen und Länder zu gelangen“, so der Text, den der Förderverein in virtuellen Sitzungen diskutiert und abgestimmt hat. „Sehr oft wurden sie von diesen Ländern abgewiesen. Dadurch fielen sie dem mörderischen Regime zum Opfer.“ Daher sehe man eine besondere Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Kommunen und aller einzelnen Bürgerinnen und Bürger, „für Menschen, die heute aufgrund von Krieg und Verfolgung zur Flucht gezwungen werden“..Weiter heißt es: „Aus dieser Verantwortung heraus dürfen wir nicht weiter zusehen, dass Menschen auf dem Mittelmeer sterben. Es ist auch verantwortungslos, wie Menschen auf der Flucht in überfüllten Lagern – teils innerhalb der EU – unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben müssen und besonders gefährdet sind in Zeiten der Corona-Pandemie. Deshalb setzen wir uns ein für ein offenes Europa, solidarische Städte und sichere Häfen.“.Nachdem sich zahlreiche Kräfte aus Ludwigsburg für das Projekt stark gemacht hatten, hat der Gemeinderat beschlossen, Ludwigsburg zum „Sicheren Hafen“ zu erklären.
23. Mai 2020: Grundgesetzfest (virtuell)
Verschiedene Akteur*innen untersuchten in Video-Beiträgen ganz aktuell: Wie geht es den Menschen und den Grundrechten in dieser Zeit, in der die Gesellschaft sich durch radikale Einschränkungen im Zusammenleben gegen eine neuartige Viruskrankheit zu schützen versucht?
„Die Bürgergesellschaft einbeziehen“ forderte der Staats- und Verwaltungsrechtler Prof. Johann Bader beim Gespräch auf dem Synagogenplatz, um die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen gut und gemeinschaftlich zu steuern. Weitere Themen: • Die aktuellen Grundrechts-Einschränkungen mit dem NS-Unrecht gleichzusetzen, ist unzulässig • Die Einbeziehung der Parlamente sichert Kontrollen staatlichen Handelns – anders als beispielsweise in Ungarn • Warum Grundrechte auch eingeschränkt werden können müssen • Der Rechtsstaat wirkt: Gegen missglückte An- und Verordnungen können Bürger*innen klagen (und hatten aktuell auch schon Erfolge).
Prof. Johann Bader ist Rechtsanwalt und Mediator in Stuttgart. Zuvor war er als Richter beim Verwaltungsgericht Stuttgart und beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim tätig. Er ist Dozent für Staats- und Verwaltungsrecht und Honorarprofessor der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg. Er ist Autor und Herausgeber von Fachbüchern u.a. in den Bereichen Verfassungs- und Verwaltungsrecht. „Mit den Grundrechten durch die Corona-Krise“: Ludwigsburgs Oberbürgermeister Matthias Knecht unterstreicht, dass die Grundrechte weiterhin gelten, auch wenn einige Freiheiten vorübergehend eingeschränkt wurden – das öffentliche Leben im Bund, im Land und in den Städten und Gemeinden steht weiterhin auf der Grundlage der Verfassung: Beispielsweise sind Menschenwürde, Eigentum, Berufsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Versammlungsfreiheit sind nach wie vor die Basis öffentlichen Handelns.„Freie Entfaltung der Persönlichkeit UND das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“: In Artikel 2 des Grundgesetzes findet Konrad Seigfried, Erster Bürgermeister der Stadt Ludwigsburg, die beiden Güter, die aktuell austariert werden müssen. Er setzt sich dafür ein, Einschränkungen während einer Pandemie zu akzeptieren, um dadurch anderen Menschen die Gesundheit und das Leben zu erhalten.Mehr Informationen zum Grundgesetz in einfacher Sprache gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung – hier klicken
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – doch wirkt sich die Corona-Krise auf beide Geschlechter gleich aus? Die Ludwigsburger Gleichstellungs-Beauftragte Judith Raupp hat beunruhigende Informationen und Prognosen.
„Es gibt kein Grundrecht, die Opfer von NS-Verbrechen zu verhöhnen!“ Dass Gegner aktueller Corona-Maßnahmen sich mit den Opfern des NS-Terrors vergleichen, findet Jochen Faber von Förderverein Synagogenplatz Ludwigsburg unerträglich. Er fordert: „Lasst uns die Mehrheit der halbwegs Freundlichen und Klugen verteidigen, auch wenn es anstrengend sein mag.“
„Eigentum verpflichtet!“
Herbert Babel, ein engagierter Bürger Ludwigsburgs, weist zum Grundgesetz-Geburtstag 2020 auf einen Missstand hin: Trotz erheblicher Wohnungsnot stehen Wohnungen leer, sind Bauplätze in der Stadt unbebaut. Wie setzt die Stadt Ludwigsburg durch, was das Grundgesetz verlangt – nämlich, dass Eigentum der Allgemeinheit dienen soll?8. Mai 2020: 75 Jahre nach dem Ende des Terrors
Der Ludwigsburger Synagogenplatz erinnert daran: Am 8. Mai 1945 ging nicht „nur“ ein grausamer rieg zu Ende, sondern da endete ein brutales Regime mit seinen furchtbaren Zielen. Im eigenen Land hatte sich kein ausreichender Widerstand gegen den planmäßigen Terror der Nazis gebildet, die Mehrheit der Bevölkerung hatte zwischen Gehorsam, Zustimmung und Erdulden ihre Position gewählt. Es war die militärische Gewalt der aufgeklärten Länder, die die Menschen in Europa von der mörderischen Diktatur des Nationalsozialismus befreite.
„
Was ist Ihre Haltung zum 8. Mai als einem Tag der deutschen Geschichte?“ fragte der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz in einer offenen Umfrage. „Sollte er ein Feiertag sein – gar ein Nationalfeiertag? Was gibt es zu feiern? Was gibt es zu bedenken?“Einige Personen meldeten sich mit kleinen Videobeiträgen, um diese wichtige Diskussion zu führen und zu weiteren Gedanken anzuregen.
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2019
10. November 2019: „Erinnern und engagieren“
Aus dem düsteren Anlass eine positive Botschaft zu entwickeln, ist jedes Jahr am 10. November das Bestreben der Menschen, die auf dem Ludwigsburger Synagogenplatz zusammenkommen. Der Tag, an dem im Jahr 1938 örtliche Nazis die Synagoge der jüdischen Gemeinde der Stadt in Brand steckten, ist ein Grund zu Erinnung und Mahnung. Die Veranstaltung ist stets ein Zeichen für Wachsamkeit und Engagement, damit die Menschenrechte aller Menschen geachtet werden.
2019 übernahm der neu gewählte Oberbürgermeister Matthias Knecht die Begrüßung der Gäste mit einem engagierten Beitrag, das Trio Revkele überzeigte mit einem breiten musikalischen Spektrum. Prof. Frerderek Musall, der als Hauptreferent eingeladen war, konnte aus familiären Gründen lediglich ein Manuskript zur Verfügung stellen, das von der Integrationsbeauftragten der Stadt Ludwigsburg, Anne-Kathrin Müller, vorgetragen wurde. Darin zog Musall die Linie von den Verbrechen der Nazis zu judenfeindlichen Attacken in den letzten Tagen und Wochen und rief zu nachhaltigem Schutz vor solchen Übergriffen auf – auch zum Einschreiten gegen verbale Entgleisungen, die Angehörige einer bestimmten Menschengruppe zur Zielscheibe machen.
23. Mai 2019: 70 Jahre Grundgesetz – ein großes Fest auf dem Synagogenplatz
„Wir stehen auf… unser Grundgesetz“, sagen die Aktiven des Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz und laden alle Interessierten zu einem Fest aus Anlass des 70. Geburtstages der Verfassung ein. Am Donnerstag, 23. Mai, gibt es ab 18 Uhr auf dem Platz der ehemaligen Synagoge ein vielfältiges Programm. Jugendliche und erwachsene Bürgerinnen und Bürger der Stadt bieten mit Musik, Theater und Redebeiträgen zahlreiche Anregungen, sich mit den Zielen des Grundgesetzes und der Wirklichkeit im Land auseinanderzusetzen.„Das Grundgesetz – Alltagsbegleiter oder Altpapier?“ fragte provokativ ein Jugendlichen-Workshop der Volkshochschule und produzierte dazu einen kurzen Film, der auf dem Synagogenplatz seine Uraufführung erleben wird. Neben der Stadt Ludwigsburg begleiteten die Landeszentrale für politische Bildung und der Filmemacher Sebastian Weimann die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.Für die Stadt Ludwigsburg hat Oberbürgermeister Werner Spec seine Teilnahme zugesagt. „Dass die Stadtverwaltung seit vielen Jahren die zukunftsgewandte Erinnerungskultur auf dem Synagogenplatz mit trägt, ist ein gutes und wichtiges Signal“, finden die Veranstalter des Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz. „Nach der Verstrickung der Stadtverwaltung in die Brandstiftung vor über 80 Jahren zeigt solche Beteiligung immer wieder neu, wie grundlegend sich die Haltung verändert hat. Menschen in Ludwigsburg und die Stadtverwaltung gehen gemeinsam verantwortungsbewusst mit der Vergangenheit um.“Eine „ernste komische Liebeserklärung an ein geschichtsträchtiges Musikstück“ präsentiert das Ludwigsburger Streichquartett gemeinsam mit der Schauspielerin Barbara Stoll: „Kaiserquartett und Deutschlandlied“ geht auf einen Text von Christof Stählin und die als Nationalhymne verwendete Musik von Joseph Haydn zurück.Schülerinnen und Schüler der „Vorbereitungsklasse Arbeit/Beruf ohne Deutschkenntnisse“ der Robert-Frank-Schule haben eine Text-Musik-Aktions-Performance unter dem Titel „Wir stehen auf unser Grundgesetz“ gemeinsam mit Sascha Albrecht und Roland Schmierer vorbereitet. Aktive des Arbeitskreises Dialog Synagogenplatz haben einige der wichtigsten Artikel des Grundgesetzes auf ihren praktischen Wert in den zurückliegenden siebzig Jahren hin untersucht – die Ergebnisse werden in ansprechender Form präsentiert.Mehrere musikalische Beiträge haben Musikerinnen und Musiker der Ludwigsburger Plattform „Lubu Beatz“ eigens für diesen Tag entwickelt und werden sie erstmals live präsentieren. Zeitgemäße Rap-Musik wird mit authentischen Texten von jungen Ludwigsburgern kombiniert, die sich erfreut und auch kritisch mit der Wirklichkeit in Deutschland auseinandersetzen.Ein besonderes Highlight wird die Veranstaltung beschließen: Sängerinnen und Sänger der Kantorei der Karlshöhe unter der Leitung von Nikolai Ott haben ihre Mitwirkung zugesagt und kommen mit zwei besonderen Liedern zu diesem Tag auf diesen Platz. „Wir feiern die Menschenrechte, die das Grundgesetz jedem und jeder garantiert“, so der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz und der Förderverein Synagogenplatz, die das Programm organisiert haben. „Und wir sind begeistert von der großen Bereitschaft engagierter und kulturell aktiver Menschen aus Ludwigsburg, dieses Fest zu unterstützen.“ Da der Synagogenplatz ein sichtbarer Hinweis darauf sei, wohin eine Missachtung der Grundrechte führe, sei dieses Datum „ein hervorragender Anlass für die Menschen der Stadt, hier Gesicht zu zeigen“ und eine sehr gute Einstimmung auf den darauf folgenden Wahlsonntag, der bei der Europawahl eine Möglichkeit biete, ausdrücklich die Kräfte zu stärken, die für die Menschenrechte einstehen.
Der Synagogenplatz am 1. Mai 2019
Am 1. Mai 2019 führte die von der IG Metall organisierte mobile Kundgebung auch über den Synagogenplatz. Dort zog der Vorsitzende des Fördervereins Synagogenplatz Ludwigsburg, Jochen Faber, Verbinungen zwischen der Geschichte des Platzes und seiner Menschen zu der kurz bevorstehenden Wahl des Europaparlaments:
„Es brennt, Brüder, es brennt!“
Dieser Satz hat natürlich auf einem Synagogenplatz wie diesem hier eine ganz eigene, noch brutalere Bedeutung. Dieser Satz stammt aus einem Text, den der Liedermacher Mordechaj Gebirtig 1938 auf Jiddisch schrieb. „’s brent, briderlech, ’s brent!“ Nach einem antijüdischen Pogrom in seiner polnischen Heimat flehte Gebirtig seine Schicksalsgenossen an, aktiv zu werden, zusammenzustehen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen: „Helfen müsst ihr selber euch, es brennt! Steht nicht, Brüder, steht nicht länger, endlich regt die Händ’, steht nicht Brüder, löscht das Feuer, wenn unser Städtchen brennt!“
1942 wurde Mordechaj Gebirtig in Krakau von Deutschen ermordet.
Dieses Lied wurde auch schon hier auf dem Synagogenplatz in Ludwigsburg gesungen, um anzuklagen, dass 1938 Ludwigsburger Nazis die hier stehende Synagoge anzündeten. Noch am Tag der Brandstiftung verhafteten örtliche Nazis viele Männer in der Stadt – ohne rechtliche Grundlage, nur weil sie zu einer bestimmten Menschengruppe gehörten. Viele von ihnen wurden ausgeraubt, vertrieben, verfolgt, über 60 Kinder, Frauen Männer aus der jüdischen Gemeinde in Ludwigsburg wurden ermordet – aus dem einen Grund, dass sie eben jüdisch waren.
Es ging kein Aufschrei durch Deutschland, „steht nicht, Brüder, steht nicht länger, endlich regt die Händ’, steht nicht Schwestern, löscht das Feuer“? Nein. Keine starke, gemeinsame Aktion erhebt sich gegen die das Unrecht der Nazis.
Und warum steht Ihr jetzt hier – Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der 1. Mai-Demonstration des DGB im Jahr 2019? Warum passt Ihr mit Eurer stolzen Forderung „für ein solidarisches und gerechtes Europa“ so gut auf diesen traurigen Platz?Fünfeinhalb Jahre, bevor die jüdischen Ludwigsburgerinnen und Ludwigsburger immer rücksichtsloser, immer brutaler verfolgt wurden, hatte diese Stadt eine ähnliche Situation schon einmal erlebt. Auch da wurden im Ludwigsburg Männer verhaftet – ohne rechtliche Grundlage. Auch da wurden Bürger dieser Stadt in Gefangenenlager gesteckt, schikaniert, entrechtet, unterdrückt.Es gab schon einen ersten Todesfall – der durchtrainierte, 31-jährige Hermann Wißmann aus Hoheneck starb am 8. April 1933 „aus ungeklärter Ursache“ im Gefangenenlager der Nazis. Er kam nicht aus irgendeinem Verein, er kam aus dem Athletiksportverein „Täle“ – einem Arbeiterverein. Denn Hermann Wißmann war Kommunist und aktiv in der Arbeiterbewegung. Nachdem die Nazis die Macht in die Hände bekommen hatten, schüchterten sie sofort ihre politischen Gegner ein – Bespitzelungen, Verhaftungen, ein paar Wochen Gefangenenlager, Schikanen. Schon im März 1933 verboten die Nazis in Ludwigsburg Arbeitersport- und Kulturvereine und zogen deren Vermögen ein. Die Gewerkschaften blieben übrig – doch nur sehr kurze Zeit. Am 4. April 1933 schafften die Nazis es, einen wichtigen Teil der organisatorischen Basis der Gewerkschaften zu zerstören: Sie verboten die regulär gewählten Betriebsräte. Gewählten Betriebsrät/innen wurden die Mandate entzogen. Einige wurden vom Betrieb entlassen, einige wurden interniert. Die Zerstörung der Existenz, die Verbreitung von Angst – das waren die Werkzeuge des NS-Systems.Am 1. Mai 1933 erfüllten die Nationalsozialisten dann eine uralte Forderung der Arbeiterbewegung: Sie machten diesen Tag zu einem Feiertag. Kommunisten und Sozialdemokraten bekämpften sich gegenseitig und und lähmten damit das Lager der grundsätzlich fortschrittlichen Kräfte. Die SPD und die von ihnen geführten Gewerkschaften forderten dazu auf, den Maifeiertag von Nazi-Gnaden mitzufeiern – doch das Anbiedern half nichts: Am 2. Mai wurden die Gewerkschaftshäuser wie das in Stuttgart von den Nazis besetzt, die Gewerkschaften zerschlagen.Es ging kein Aufschrei durch Deutschland, nicht am 4. April, als die Betriebsräte zerstört wurden, nicht am 2. Mai, als die Nazis die Gewerkschaften selbst kassierten. „Steht nicht, Brüder, steht nicht länger, endlich regt die Händ’, steht nicht Schwestern, löscht das Feuer“? Nein. Keine starke, gemeinsame Aktion erhebt sich gegen die das Unrecht der Nazis.Ich bin einer von den Leuten, die sich seit einigen Jahren verstärkt um diesen Platz hier kümmern, einfach aus bürgerschaftlichem Engagement heraus. Wir finden, dass aktive Erinnerung an die Nazi-Verbrechen der erste Schritt sein kann, die Logik dahinter zu verstehen. Auch vor diesem Hintergrund fordern wir jedes einzelne Menschenrecht im heutigen Alltag für jede und jeden ein, egal wo sie geboren wurden, welche Religion sie haben, welche Meinung sie haben – nur gegen die Feinde der Toleranz sind wir intolerant. Hier müssen wir überzeugen, Bündnisse bilden, handlungsfähig sein!Darum sage ich: Gut, dass Ihr hier seid! Danke! Wenn wir die Lektionen lernen, die Hermann Wißmann uns aufgibt und die Mordechaj Gebirtig uns aufgibt und die vielen Millionen anderer, wenn wir eine Einheit der progressiven, menschenfreundlichen Kräfte erhalten (bei allen unterschiedlichen Standpunkten), dann bin ich völlig zuversichtlich.Wir werden wir dieses Deutschland und das über Jahrzehnte relativ erfolgreiche Friedensprojekt Europa nicht den Dumpfbacken überlassen. Nicht denen, die mit scheinbar einfachen Antworten punkten wollen. Nicht denen, die sich mit anti-europäischen Parolen im europäischen Parlament noch breiter machen wollen und das Rad zurückdrehen wollen. Nicht denen, die im Menschen ausgrenzen wollen, die Menschen ihrer grundlegenden Rechte berauben wollen.Das Bild, das diese Leute von der Zukunft haben, kennen wir schon – aus der Vergangenheit.Wir sehen sie zündeln, aber wir regen die Händ’, wir löschen das Feuer, wenn sie wollen, dass unser Städtchen brennt, dass unser Kontinent brennt.Wir stehen für ein solidarisches und gerechtes Europa – jetzt aber richtig!-
2018
10. November 2018: „Vor 80 Jahren zerstörten Verbrecher die Ludwigsburger Synagoge“
Die Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs, Barbara Traub, war Gast beim traurigen Jubiläum. Sie sprach sich engagiert für eine Verteidigung von Grundrechten für Angehörige aller Menschengruppen aus und schloss dabei ausdrücklich auch muslimische Gläubige ein, die auch in Deutschland Opfer von Ausgrenzung werden.
Die Musiker Andreas Rapp und Felix Meyerle zeigten mit ihrem ebenso ansprechenden wie anspruchsvollen Programm, wie bewegend traditionelle jüdische Musik in Kombination mit Jazz-Elementen klingt.
Für die Stadt Ludwigsburg erklärte der Erste Bürgermeister Konrad Seigfried:
Ich freue mich, dass Sie alle heute Abend zur Gedenkfeier gekommen sind und darf Ihnen auch die herzlichen Grüße unseres Oberbürgermeisters Werner Spec übermitteln, der heute mit Schülerinnen und Schülern aus Ludwigsburg und Montbéliard das Ende des Ersten Weltkrieges begeht. Ich darf auch die Grüße unseres Gemeinderates übermitteln.Wir sind heute wieder zusammengekommen,
• um gemeinsam ein Zeichen zu setzen,
• um gemeinsam die Erinnerung an diesen schrecklichen Teil unserer Stadtgeschichte wach zu halten,
• um gemeinsam unsere Stimme zu erheben für Menschlichkeit und gegen Rassismus,
• und um deutlich zu machen, dass wir für unsere Geschichte einstehen und Verantwortung übernehmen, alles dafür zu tun, um jeder Entwicklung Einhalt zu gebieten, die danach trachtet mit Ressentiments, Hass und Hetze Mitmenschen wieder zu Unmenschen zu definieren.
Wir feiern in diesem Jahr 300 Jahre Stadt Ludwigsburg. Ein Jahr der Rückschau, vor allem aber auch ein Jahr, das dem heutigen Zusammenleben und unserer Zukunft und Verantwortung gewidmet ist.
Der 10. November 1938 war der beschämendste Tag unserer 300 jährigen Stadtgeschichte. Und die Reichspogromnacht zählt zu den Ereignissen in unserem Land, die sich nie, nie auch nur in Ansätzen wiederholen dürfen.
Am 10. November 1938 fiel an genau diesem Ort die Ludwigsburger Synagoge dem Pogrom zum Opfer. Von Brandstiftern, also Verbrechern, angezündet, von vielen Bürgerinnen und Bürgern beobachtet, wurde das jüdische Gemeindeleben in dieser Stadt zerstört.
Vor 80 Jahren wurden während der Novemberpogrome in ganz Deutschland jüdische Friedhöfe geschändet, mehr als die Hälfte aller Synagogen und Betstuben niedergebrannt, über 7.500 Geschäfte jüdischer Inhaber demoliert und Wohnungen zerstört. Langjährige Nachbarschaften haben von einem Moment auf den anderen nicht mehr getragen. Mehr als 1.300 Menschen starben während dieses Pogroms und unmittelbar danach an den Folgen der Ausschreitungen.
Die gezielt geplanten Gewaltexzesse mutierten zum Flächenbrand, kaum eine jüdische Gemeinde blieb verschont. Die Reichs-pogromnacht markierte den Übergang von der fortschreitenden Diskriminierung deutscher Juden zu deren systematischer Entrechtung, Verfolgung und schließlich deren Vernichtung. Sie weitete sich mit Beginn des Zweiten Weltkrieges auf fast ganz Europa aus. Der Holocaust wurde zum Inbegriff einer kollektiven, industriell organisierten Ermordung von Menschen. 6 Millionen Jüdinnen und Juden wurden in Europa ermordet. Eine unvorstellbare Zahl, die erst mit der persönlichen Geschichte von Menschen, wie Sie auch hier auf dem Synagogenplatz dargestellt werden, in ihrem ganzen Grauen erkennbar wird.
Dieser Teil unserer Geschichte war ein offener Angriff auf jede Menschlichkeit und ein ungeheurer Zivilisationsbruch. Der kaum spürbare Widerstand, die fehlende Anteilnahme am Schicksal der jüdischen Menschen, die Gleichgültigkeit, war kennzeichnend für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Dieser zivilisatorische Bruch ist, aus heutiger Sicht, für uns alle noch immer schwer erklärbar.
In einem kürzlich veröffentlichten Interview fasste ein Überlebender des Holocaust diesen Tag wie folgt zusammen: „Der 9. November. war ein Schicksalstag für alle Juden in Deutschland, er war das Ende des Lebens“
Wir gedenken heute gemeinsam dieser Ereignisse. Wir gedenken unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die zwar nicht hier auf dem Synagogenplatz, aber in Gefängnissen und KZs misshandelt, vertrieben und viele später ermordet wurden.
Wir verneigen uns vor unseren ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern und allen Opfern des Holocaust in tiefem Mitgefühl.
Mit diesem Gedenken halten wir die Erinnerung wach. Wir haben in diesem Jahr unseres Stadtjubiläums auch viele großartige Ereignisse unserer Stadtgeschichte wieder aufleben lassen. Doch wir setzen uns auch mit den Niederungen und Abgründen auseinander, um daraus Konsequenzen für unser Handeln zu ziehen.
Ludwigsburg ist eine großartige, inspirierende Stadt – damals als zukunftsweisende Modellstadt geplant, mit Gestaltungswillen und nimmermüdem Ideenreichtum. Stadt denken – Stadt leben – Stadt gestalten war in diesem Jahr unser Motto.
Dennoch vergessen wir auch die Momente unserer Stadtgeschichte nicht, auf die wir nicht stolz sind und die uns sehr beschämen:
• Die Zwangsrekrutierung von Soldaten („Soldatenverkauf“), die dann bspw. beim Kap-Regiment eingesetzt wurden. Von den 3 200 Mann, die von Ludwigsburg zur holländisch-ostindischen Kompanie verlegt wurden, kamen gerade einmal 125 zurück.
• Dem Justizmord an Joseph Süß Oppenheimer, dem Finanzier des Herzogs.
• Dem schändliche Umgang mit der Familie Elsas, ich erwähne ausdrücklich Max Elsas als Stellvertreter des damaligen Oberbürgermeisters.
• Und, gerade deswegen sind wir heute hier, dem Niederbrennen der Ludwigsburger Synagoge und der Vertreibung und Vernichtung des jüdischen Lebens in unserer Stadt.
• Auch die anfängliche Ablehnung der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen durch Teile der Ludwigsburger Bevölkerung gehört nicht zum Ruhmesblatt von Ludwigsburg.
Sich im Sinne des grundsätzlichen Bekenntnisses zu unserer Demokratie kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und künftige Fehlentwicklungen zu verhindern. Antisemitismus und die grundsätzliche Ausgrenzung von Minderheiten sind allgegenwärtige Probleme, die gerade in letzter Zeit wieder unangemessen und unangenehm Raum einnehmen und sich in unserer Gesellschaft breit zu machen drohen.
Auch unsere Ludwigsburger Stadtgeschichte taugt zur Mahnung daran, dass die Würde des Menschen, aller Menschen, unantastbar sein muss und alle aufgefordert sind, diese jederzeit zu verteidigen. Ich bin heute Stolz darauf, dass wir engagierte Menschen in unserer Stadt haben, die sich mutig einsetzen, dass wir viele Menschen finden, wenn es darum geht Humanität zu verteidigen, Rassismus entgegen zu treten und auch den Mut haben, ihren Mund auf zu machen.
Ich freue mich darüber, dass am Theaterturm weithin sichtbar, diese Losung unserer Verfassung prangt: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Lassen Sie uns gemeinsam und immer wieder sichtbare Zeichen setzen:
• wie hier und heute auf dem Synagogenplatz, ein Ort zum Nachdenken, ein Ort der mahnenden Erinnerung,
• mit den bereits 77 Stolpersteinen in unserer Stadt, die das Schicksal unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch das Schicksal von Behinderten, politisch Verfolgten in Erinnerung rufen.
• Demnächst mit einer Sophie Scholl- oder Geschwister Scholl-Schule. Im Übrigen auf Antrag unseres Jugendgemeinderates.
• Mit der Zentrale Stelle, die wir dauerhaft in Ludwigsburg mit einem wissenschaftlich-pädagogischem Konzept, als Gedenk- und Forschungszentrum erhalten wollen.
• Vor allem aber mit so vielen engagierten Menschen, wie sich nicht zuletzt im Arbeitskreis Synagogenplatz zu finden sind, einem lebendigen Beispiel, wie Bürgerinnen und Bürger aus unserer Mitte dafür sorgen, dass die Menschen, denen während der Naziherrschaft Unbeschreibliches widerfahren ist, nicht in Vergessenheit geraten.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle an das Ehepaar Susanne und Uwe Müller zu erinnern, zwei im Förderkreis sehr aktive Mitglieder, die in diesem Jahr verstorben sind. Susanne und Uwe Müller war ihr Engagement im Arbeitskreis Synagogenplatz eine Herzensangelegenheit. Zahlreiche Ideen gehen auf sie zurück, die Schülergeschichtswerkstatt zum Beispiel oder die Lesung des Grundgesetzes hier auf dem Synagogenplatz. Ihr Kontakt zu allen Menschen war von einer Offenheit und Herzlichkeit geprägt, die bemerkenswert war.
Beide haben mit ihrem Wirken auch an uns die Frage gestellt:
Tun wir wirklich genug ,um dem Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenhass entgegen zu treten?
Nehmen wir wirklich wahr, wenn Menschen, wenn Minderheiten, wegen ihrer Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung diskriminiert werden?
Gerade jetzt, wo viele Menschen aus den Krisenregionen dieser Welt flüchten und bei uns Schutz suchen, braucht es besondere Achtsamkeit, braucht es den Rückhalt im Alltag, braucht es menschliche Werte. Werte unserer Verfassung, die nicht nur auf dem Papier stehen dürfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
„Wir Menschen gestalten Geschichte. Mit realistischen Visionen und Klugheit können wir den Wandel vorantreiben. Das Beste, das uns gegeben wurde, ist unser Hirn. Wir müssen es nutzen“. Mit diesem Zitat des Dalai Lama bedanke mich für das Engagement vieler Menschen und ihr Kommen am heutigen Abend.
Insbesondere sage ich herzlichen Dank an sie, lieber Jochen Faber, der Sie auch heute wieder den Großteil der Vorbereitungen übernommen haben. Danken möchte ich auch meinem Fachbereichsleiter Volker Henning und seinem Team für die vorbereitenden Arbeiten.
9. November 2018: Das Schillergymnasium auf dem Synagogenplatz
Wer von den Schülerinnen und Schülern des Ludwigsburger Friedrich-Schiller-Gymnasiums (FSG) wollte, konnte kleine Steine bemalen, um seinen Bezug zu den verfolgten jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn auszudrücken. Über hundert solcher Steine wurden auf den Koffern abgelegt, die auf dem Synagogenplatz an die Menschen erinnern, die während des NS-Regimes aus Ludwigsburg deportiert und ermordet wurden, weil sie jüdischer Herkunft waren. Damit starete das FGS eine für viele Passanten über Wochen sichtbare Aktion.Schulleiter Ulrich von Sanden verband den hundertsten Geburtstag der ersten Demokratie in Deutschland mit dem 80. Jahrestag der judenfeindlichen Pogrome als Aufruf, die Demokratie und ihre Freiheiten nie als selbstverständlich anzusehen.
Arbeitsgruppen hatten Biografien von Ludwigsburger Jüdinnen und Juden erarbeitet, die Opfer der brutalen Verfolgung geworden waren, und präsentierten sie anschaulich. Gemeinsame Lieder, auch mit hebräischen Textteilen, unterstrichen die Verbindung zu den vertriebenen Nachbarinnen und Nachbarn.
Um eine Verbindung zum heutigen Leben herzustellen, waren Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften eingeladen, um ihre Sicht auf den Zustand von Toleranz in der aktuellen Gesellschaft darzustellen. Sie dankten den Schülerinnen und Schülern für ihre engagierte Beteiligung und ermunterten sie, aufmerksam und hilfsbereit den Alltag zu gestalten.November 2018: Zum Tod von Harry Grenville
Harry Grenville, der als Kind einer jüdischen Ludwigsburger Familie den Nazi-Terror überleben konnte, ist Anfang November im Alter von 92 Jahren in seiner zweiten Heimat in England gestorben. Der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz und die Stolperstein-Inititative Ludwigsburg haben damit einen wichtigen Zeitzeugen und engagierten Unterstützer verloren. Zuletzt hatte Harry Grenville im Jahr 2014 die Stadt seiner Kindheit wieder besucht und hielt eine Rede bei der Einweihung des neu gestalteten Synagogenplatzes.1926 wurde er als Heinz Greilsamer geboren, seine Eltern waren Klara und Jakob Greilsamer – sie war eine Tochter der über Generationen in Ludwigsburg lebenden Familie Ottenheimer, er kam aus dem Badischen und führte gemeinsam mit seinem Schwiegervater die „Württembergische Papierzentrale“. Heinz und seine zwei Jahre jüngere Schwester Hanna verlebten eine glückliche Kindheit in Ludwigsburg, bis die Anhänger des Nationalsozialismus mit ihrem Judenhass die Familie immer stärker bedrängten und verfolgten.Heinz und Hanna mussten 1938 ihre Schule in Ludwigsburg verlassen und in einer jüdischen Schule in Stuttgart unterrichtet werden. Im Juni 1939 konnten ihre Eltern sie mit einem Kindertransport nach England schicken – das Versprechen, man werde sich wiedersehen, war nicht einzuhalten: Jakob und Klara Greilsamer sowie ihre Mutter Sara Ottenheimer wurden 1941 gezwungen, in einem „Judenhaus“ in Stuttgart zu leben. 1942 wurde das Ehepaar mit vielen anderen in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, 1944 wurden sie in Auschwitz ermordet.Heinz Greilsamer gab sich in England den neuen Namen Harry Grenville. Er machte eine Ausbildung als Laboratoriumsgehilfe und studierte anschließend am Londoner King’s College, um Lehrer zu werden. Er heiratete und wurde Vater von drei Kindern. Zur Verlegung der Stolpersteine, die in der Mathildenstraße an seine Eltern und seine Großmutter erinnern, kam er 2009 mit seinen Kindern und seiner Enkeltochter. Bereits Jahre zuvor hatte er durch eine Geldspende die Anschaffung von Büchern in Schulbibliotheken über die NS-Geschichte ermöglicht.Durch persönliche Begegnungen und schriftliche Berichte gab Harry Grenville den Aktiven der Stolperstein-Initiative und des Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz viele wertvolle Informationen und viel Motivation für ihre aufklärerische Arbeit. Im Kontakt mit Schülerinnen und Schülern sind seine Notizen und sein persönliches Beispiel der Versöhnung und des wachsamen Umgangs mit Geschichte und Gegenwart wertvolles Material für die Ludwigsburger Initiativen. In seinem Umfeld in England war er ebenfalls bis ins hohe Alter sehr engagiert, um Wissen und Bewusstsein über Judenhass, seine brutalen Auswirkungen und was dagegen getan werden kann, zu verbreiten.Seine herzliche Art, Menschen zu begegnen, machte Harry Grenville vielen sehr sympathisch. „Damals fühlten wir uns von der Stadt, von den Menschen ausgestoßen“, sagte Harry Grenville bei einem seiner Besuche in Ludwigsburg. Heutzutage dagegen fühlten er und seine Familie, dass sie willkommen seien. Die Trauer über die selbst erlebte Verfolgung und die Ermordung seiner Verwandten konnte er so mit persönlichen Kontakten verbinden, durch die seine Mahnung zu Mitmenschlichkeit und Engagement in Ludwigsburg ankam und bleiben wird.
Juni 2018: Zum Tod von Susanne und Uwe Müller
Viele Ideen brachten Susanne und Uwe Müller in die Diskussionen und Aktionen rund um den Synagogenplatz ein – und sie waren beide Menschen, die auch beim Umsetzen von Konzepten beherzt und beharrlich mitwirkten. Ohne den Bedarf, sich in die vordere Reihe zu stellen, übernahmen sie vielfach Verantwortung für das vielfältige Projekt.
Im Jahr 2009 entschieden die beiden sich, die damals anstehende Erneuerung des Synagogenplatzes mit voranzubringen. Sie brachten Projekte auf den Weg wie die Schüler-Geschichtswerkstatt oder die Grundgesetz-Lesungen auf dem Synagogenplatz. Sie motivierten Jugendliche ebenso wie Musiker, Wissenschaftler und viele, viele andere, bei Veranstaltungen mitzuwirken und damit die Geschichte der Ludwigsburger Synagoge und ihrer Menschen für Interessierte, quer durch alle Generationen, zugänglich zu machen.23. Mai 2018: Grundgesetz-Tag
Vor 69 Jahren, am 23. Mai 1949, trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Dieser Text wurde zur Basis des Zusammenlebens in Deutschland. Aus dem Grundgesetz wurde – spätestens durch die gesellschaftliche Realität seit der Vereinigung von BRD und DDR – die Verfassung der Bundesrepublik.
Wir feiern das Grundgesetz und seine zentralen Artikel an diesem Tag auf dem Synagogenplatz, der an schlimmste Menschenrechtsverletzungen erinnert. Wir wissen, dass Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit nicht überall übereinstimmen. Wir sind aufgefordert, daran zu arbeiten, dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit kleiner wird.
Zum Beispiel: Die Würde des Menschen ist unantastbar • Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit • Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich • Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich • Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern • Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln • Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich • Die Wohnung ist unverletzlich • Politisch Verfolgte genießen Asylrecht
Folgende Personen hatten für diesen Tag zugesagt, Menschenrechtsartikel aus dem Grundgesetz vorzustellen: Mio Schopf (wird an diesem Tag sieben Jahre alt) • Konrad Seigfried (Erster Bürgermeister) • Yücel Köylü (Runder Tisch Türkei) • Anke Wiest (Fachstelle Frau und Beruf) • Lutz Raasch (Apotheker i.R., wandelndes Ludwigsburger Geschichtsbuch) • Adriano Sentürk Di Cosola (Kinderkrebshilfe „Urmel e.V.“ Ludwigsburg) • Martin Wendte (Citypfarrer) • Tom Hager (Studierender in Ludwigsburg) • Anna Mehlin (Demokratiezentrum Baden-Württemberg und Studierende in Ludwigsburg) • Nicolai Köppel (Organisator Ludwigsburger Literaturfest, Autor, Liedermacher) • Katja Larbig (Diakonischer Vorstand Karlshöhe Ludwigsburg) • Vithusan Vijayakumar (Jugendgemeinderat) • Roland Schmierer (Berufsschullehrer, im Bürgerverein Neckarweihingen auch in Erinnerungsarbeit aktiv) • Andrea Kling (Reiseverkehrskauffrau) • Cem Ercetin (Krankenpfleger und Betriebsrat im Klinikum) • Sami Ercan (Integrationsbeirat) • Yodit Aiemut (Sachbearbeiterin und Betriebsrätin bei der Stadt) • Sigrid Zimmerling (Geschäftsführerin der Bezirkskammer Ludwigsburg der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart) • Gottfried Engel (Geschichtslehrer i.R.) • Sascha Albrecht (Schulsozialarbeiter, Theatermacher) • Constantin Weyrich (Oberreferendar Schiller-Gymnasium) • Anita Wesner (von den 60er-Jahren bis zu den Stolpersteinen aktiv für Erinnerung an NS-Verbrechen und angemessenen Umgang damit) • Thomas Roth (Jugendsachbearbeiter und Ansprechpartner für Muslime beim Polizeirevier Ludwigsburg) • Mazen Mohsen (Musiker) • Daniel Simon (langjähriger Unterstützer des AK Synagogenplatz)
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2017
10. November 2017: Erinnerung! Mahnung!
Brücken ivon der Geschichte in die Gegenwart baute das Programm am 69. Jahrestag der Synagogenbrandstiftung in Ludwigsburg. Stadtarchivar Dr. Simon Karzel berichtete anschaulich, was Archivstücke vom Leben der Jüdinnen und Juden in Ludwigsburg zeigen. Der Ludwigsburger Oberbürgermeister Werner Spec unterstrich die Verantwortung der gegenwärtigen Generation für ein tolerantes und engagiertes Zusammenleben verschiedenster Gruppen von Menschen in der Stadt. Wortwörtlich grenzenlose Musik spielte das Quartett Café Dünya.
9. November 2017: Konzert mit Asamblea Mediterranea
Das Ensemble „Asamblea Mediterranea“ um den Gitarristen Alon Wallach spielte für den Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz am geschichtsträchtigen 9. November. Die Musikauswahl ist ebenfalls bedeutsam – in einem durch und duch positiven Sinn: Die Lieder sephardischer Juden umfassen Elemente aus allen Kulturen, die bis ins 15. Jahrhundert friedlich nebeneinander und miteinander auf der iberischen Halbinsel lebten: jüdische, muslimische und christliche Musiktradition klingt da wieder, wenn das Ensemble aus vorzüglichen Interpretinnen und Interpreten aufspielt.
12. September 2017: Zum Tod von Miriam Weiss
Mit neun Jahren floh sie mit ihrer jüdischen Familie aus Deutschland und entkam so dem Holocaust. Miriam Weiss, als Inge Marx in Ludwigsburg geboren, ist nun in Israel gestorben - in der Siedlung Shavei Zion, die ihre Eltern mit aufgebaut hatten. Sie hinterlässt ihren Mann Menachem, eine große Familie und ein großes Vermächtnis: ,,Wir wollen heute alle nur in Frieden leben.“
Schon 1937, Inge war gerade einmal acht Jahre alt, war die Familie Marx aus ihrer Wohnung in der Myliusstraße geworfen worden, auch in der Hoferstraße wohnte sie kurz, wie die Urenkelin des damaligen Vermieters, Stefanie Raab, berichtet. Noch heute ist die Bäckerei Raab in dem Haus am Schillerdurchlass zu Hause. Nur einJahr in der Schule in Ludwigsburg zugelassen, flüchtete Inge mit ihrer Familie zur jüdischen Gemeinde nach Stuttgart, wo sie mir ihrer Schwester Adolf Hitler und die jubelnde Masse auf der Königstraße erlebte. Sie wussten nicht genau, um was es ging, aber eines hatten sie mitbekommen: „Wegen dem müssen wir weg.“Kurz darauf kam die Flucht über die Schweiz und Italien mit dem Schiff nach Palästina, aus Inge Marx wurde Miriam Marx, später durch Heirat Miram Weiss. Dass die Flüchtlinge von Arabern beschossen wurden, als sie in Haifa das erste Mal das Gelobte Land betraten, hat sie nie vergessen - auch wenn sie mit ihrem Mann Menachem aus Berlin, den sie in der Siedlung kennenlernte, ein arabisches Stammlokal in Naharija hatte.
Die Flucht aus Deutschland im Mai gelang mit einer Gruppe Juden aus Rexingen (heute Horb). Miriams Eltern stammten ursprünglich aus Freudental, und beide Gruppen, im Zionismus vereint, planten die Flucht gemeinsam. Dass es ihnen im Mai 1938 gelang und damit nur kurz vor der Pogromnacht im November, war ein ausgesprochenes Glück. Die Eskalation war damals trotz der zahllosen Repressalien für Juden und deren Diskriminierung nicht abzusehen. Alle Familienmitglieder überlebten. Auch wenn die Familie Mühe hatte, die 1000 Pfund zusammenzubringen, die nötig waren, um sich in der späteren Siedlung Shavei Zion nördlich von Haifa einzukaufen.
Ein Husarenstück: Nach Vorgabe der britischen Regierung hatten die Neuankömmlinge 24 Stunden Zeit, ihr Grundstück mit Zaun und Wachturm auszustatten und damit die Siedlung Shavei Zion zu sichern. Das gelang.
Dort ist Miriam Weiss im Alter von 89 Jahren am 12. September zu Hause gestorben, ihr Mann Menachem lebt weiter in der Wohnung. Dort bekam sie ihre zwei Söhne, die mit ihren fünf Enkeln und zwei Urenkeln aber nicht mehr dort zu Hause sind. Dort arbeitete sie - zunächst wie ihre Familie und die Rexinger Gruppe in der Landwirtschaft zu Hause - als Erzieherin, Menachem im Hotel. Dort pflegte sie die schwäbische Küche mit Spätzle und Maultaschen.
Mit LKZ-Redakteur Steffen Pross, der sie mehrmals in Israel besuchte, unterhielt sie sich im breitesten Schwäbisch, ihre Wohnung war voller Fotos von Württemberger Juden, und ihr Mann kann bis heute auswendig deutsche Gedichte rezitieren. Heute ist Shavei Zion (auf Deutsch: Rückkehr nach Zion) ein Dorf mit schönem Badestrand und rund 850 Einwohnern aus Israel, damals war die Siedlung ein rundum schwäbische Enklave.
Miriam Weiss war das letzte Mal 2012 in Ludwigsburg, bei der Gedenkfeier zum Brand der Synagoge am 10. November. Sie war immer wieder nach Ludwigsburg gekommen und hielt den Kontakt, informierte sich auch über die Ludwigsburger Kreiszeitung. Sie wollte ihren Kindern zeigen, woher sie kam. In Deutschland lebe mittlerweile eine andere Generation, sagte sie: ,,Wir wollten unseren Kindern unsere Wurzeln zeigen. Und deutlich machen, dass es dort nicht nur Nazis gibt.“
Ganz in die Heimat zurückkehren stand für die überzeugte Zionistin jedoch nie zur Debatte: ,,Es gibt nur einen Platz für Juden auf dieser Welt, und das ist Israel.“ „Miriam Weiss hat in Israel den Platz fürs Leben gefunden, ihre alte Heimat in Ludwigsburg hat sie nicht vergessen“, sagt Jochen Faber, der mit ihr für die Einrichtung des Synagogenplatzes als Erinnerungsstätte kämpfte. Ihre freie Rede vor fünf Jahren in Ludwigsburg, als sie ihr Manuskript wegsteckte und für ein friedliches Zusammenleben appellierte, wie auch das jüdische Totengebet Menachems, bewegten das Publikum stark. ,,Wir wollen heute alle nur in Frieden leben“, sagte sie damals. ,,Denkt an unsere Kinder.“
Janna Werner, Ludwigsburger Kreiszeitung23. Mai 2017: WIR STEHEN AUF! unser Grundgesetz
Ein Artikel der Journalistin Hilke Lorenz in der Stuttgarter Zeitung hatte Folgen: Uwe Müller vom Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz fand das darin geäußerte Bedauern, die Menschen in der Bundesrepublik würden ihre Verfassung nicht beherzt genug feiern sehr wichtig. Darum entwickelte er die Idee, das Grundgesetz an seinem Geburtstag, der 23. Mai, auf dem Synagogenplatz zu feiern. Also auf einem Platz, auf dem das Fehlen von Grundrechten so grausam vor Augen geführt worden war.
Eine solche bürgerschaftliche Feier ist in gewisser Weise das Gegenstück zum Gedenken an die Brandstiftung, das jährlich am 10. November stattfindet: Das Grundgesetz mit seinen Menschenrechts-Artikeln ist eine wichtige Konsequenz, die aus dem Versagen von Recht und Ordnung in der Nazi-Diktatur gezogen wurde.
Der AK Dialog Synagogenplatz fragte in der Stadt herum und fand eine Menge Menschen aus vielen Bereichen des städtischen Lebens, die bei dieser Aktion mitzumachen bereit waren. Jede*r las einen der Grundrechts-Artikel vor. Dazu gab es Musik vom Ensemble „Taktlos“, vom Internationalen Chor aus Stuttgart und von der Musikgruppe „Makel los“. Folgende Personen aus der Stadtgesellschaf trugen Grundrechts-Artikel vor: Tina Gonsiorek (Tanz- und Theaterwerkstatt) • Werner Wisniewski (Stadtzinkinist) • Martina Wörner (VHS Ludwigsburg) • Eberhard Simon (Einzelhändler Innenstadt) • Sebastian Weimann (Regisseur und Produzent) • Sujatha Wanigesinghe (Assistenz des Geschäftsführers Filmakademie Ludwigsburg) • Dorothea Volke (Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg) • Muhittin Soylu (Zentralrat der Muslime) • Hans-Martin Zipfel (kath. Kirche St. Paulus) • Hilke Lorenz (Journalistin, Autorin) • Eberhard Daferner (Stadtrat; als Vertreter von Gemeinderat und Stadtverwaltung) • Inge Kirsner (Hochschulpfarrerin) • Andreas Klaue (Schauspieler, Theatersommer Ludwigsbug) • Bouchra Kaplan (Integrationsbeirat) • Winfried Speck (Dekan Evangelische Kirche) • Anne Schneider-Müller (Geschäftsführerin LudwigsTafel) • Peter Müller (Staatsarchiv Ludwigsburg) • Michael Schopf (Veranstaltungsfirma Lautmacher) • Marlis Albrecht (Malerin) • Yazan Al-Rojouleh (Bufdi bei der Stadt Ludwigsburg) • Axel Müller (Projektleiter Ludwigsburger Innenstadt-Verein Luis) • Thomas Stierle (Leiter der Stadtbibliothek) • Uwe Jansen + Schüler*innen Goethe-Gymnasium • Marion Werling-Barth + Schüler*innen Schiller-Gymnasium • Beatrix Hellwage-Rathgeber (GEW) • Jens Rommel (Leiter Zentrale Stelle) • Julia Schell (Integrationsbeirat-Mitglied)
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2014
Übergabe des neu gestalteten Synagogenplatzes an die Bevölkerung 2014
Ausschnitte aus dem Programm vom 10. November 2014
Übergabe des erneuerten Synagogenplatzes an die Bevölkerung – es sprachen
- Harry Grenville (der als Kind aus Ludwigsburg vor dem Nazi-Terror fliehen konnte)
- Susanne Jakubowski (für die Israeltische Religionsgemeinschaft Württembergs)
- Dr. Albert Sting (Ehrenbürger der Stadt Ludwigsburg und im Vorstand des Fördervereins Synagogenplatz)
- Oberbürgermeister Werner Spec
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2009 – 2014
2009 – 2014: Der Weg zum neu gestalteten Platz
Nach seiner Umgestaltung 1988 zeigte der Synagogenplatz immer deutlicher, dass der damalige Fortschritt nicht mehr genügte.
Baulich war problematisch, dass der Abfluss von Regen- und Schmelzwasser nicht ausreichend war, so dass immer wieder matschige Pfützen zwischen den Bäumen entstanden (ein Grund hierfür war die starke Beanspruchung des Bodens, denn täglich nutzen viele hunderte Menschen den Platz als rasche Fußweg-Verbindung vom Bahnhof zur Innenstadt bzw. umgekehrt).
Es zeigte sich aber auch, dass die Gestaltung mit dem Grundriss der früheren Synagoge und den Bäumen, die ihre bauliche Größe symbolisieren sollten, von sehr vielen Menschen nicht erkannt wurde. Der Platz wirkte wie eine etwas dürftige Grünanlage; zu seinen Inhalten konnte man nur mit viel gutem Willen durchdringen. Der Gedenkstein von 1959 war inhaltlich peinlich schwammig, der 1988 neu angebrachte Gedenkstein war etwas klarer, aber sehr schwer leserlich. Ein Hinweis auf die Ludwigsburger*innen, die in der Synagoge ihr religiöses und kulturelles Zentrum hatten und die von ihren Nachbarn vertrieben, verfolgt und ermordet wurden, fehlte völlig.
Mehrere Anläufe zu einer Verbesserung des Platzes scheiterten. Kein Konzept überzeugte wirklich, und im entscheidenden Moment wurde im Gemeinderat argumentiert, es sei nicht ausreichend Geld vorhanden.
Daher lud die Stadtverwaltung Ende der 2010er-Jahre interessierte Bürgerinnen und Bürger ein, noch einmal neu über den Platz nachzudenken. Dabei wurden verschiedene Personen und Gruppen angesprochen, die sich mit dem Umgang mit der örtlichen Nazi-Geschichte bereits befasst hatten. Aus dieser Initiative heraus entstand eine bunt zusammengesetzte Gruppe, die schließlich als „Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz“ eine umfassende bürgerschaftliche Diskussion über den Synagogenplatz anstieß und die Neugestaltung des Platzes mit zahlreichen Aktionen vorantrieb.-
2013
29. bis 31. Juli 2013: Ludwigsburger Schüler-Geschichts-Werkstatt
Ein knappes Dutzend interessierter Jugendlicher war dabei, als Mitglieder des Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz drei Tage lang eine Menge Informations- und Erfahrungs-Angebote machten. Die Gesichte jüdischer Bürgerinnen und Bürger Ludwigsburgs war das Thema, Integration und Fremdheit, Freundschaft und Ausgrenzung. Durch Vorträge und Filme, eigene Recherchen in biografischem Material und den Besuch von Stadtarchiv und Staatsarchiv sammelten die Jugendlichen Fakten und Eindrücke über Menschen aus Ludwigsburg, die wegen ihrer Abstammung von den Nazis verfolgt wurden.
Das gesammelte Wissen verarbeiteten sie zu einer fachkundigen Stadtführung zum Synagogenplatz und zu einigen Häusern der Innenstadt, in denen jüdische Familien gewohnt hatten. Diese Führungen konnten sie in der Folgezeit auch Gruppen von Gleichaltrigen anbieten.
Die Jugendlichen verwendeten die ersten Tage ihrer Sommerferien für dieses Projekt. Die Archive stellten engagiertes Personal zur Verfügung, der CVJM einen perfekten Ort. Vorbereitet und begleitet wurde die Ludwigsburger Schüler-Geschichts-Werkstatt 2013 von Susanne Müller, Uwe Müller und Jochen Faber.
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2012
In einer Ausstellung im Ludwigsburger Kulturzentrum stellte der Arbeitskreis Dialog Synagogenplatz im März 2012 die Geschichte der Synagoge und vor allem des bürgerschaftlichen Beteiligungsprozesses der letzten zwei Jahre vor. Es war die Einladung, eigene Ansichten oder Vorschläge einzubringen, ehe Stadtverwaltung und Gemeinderat an eine Entscheidung gehen.
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1988
Auf vielfachen Wunsch hielt Albert Sting diesen Vortrag im Jahr 2013 wieder. Die allermeisten Teile des Texts hatte er 1988 als Beitrag zur Gedenkveranstaltung für die Zerstörung der Ludwigsburger Synagoge erarbeitet – mit 50 Jahren Abstand und noch zahlreichen Zeitzeug*innen, die als Publikum erreicht werden konnten.
Albert Sting: Aus der Geschichte der Ludwigsburger Juden
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
nichts kann das Schreckliche des Datums, an das wir heute denken, verringern. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, aber dem, der sich mit diesen Ereignissen beschäftigt, ergibt sich erst aus solcher Distanz ein einigermaßen zutreffendes Bild.
Schweren Verlust bedeutet es, diese jüdischen Bürger, die so bedeutsam für die Stadt waren, nicht mehr unter uns zu haben. Trauer befällt uns im Darandenken. In einem Gedenken, das erlaubt, ein Stückweit Wut und Zorn, Anklage und Selbstanklage, Scham und Verstummen hinter sich zu lassen und Antwort zu suchen auf die Frage: Wie war es denn tatsächlich? Wie war der Gang der Geschichte dieser Stadt mit ihren Juden und dieser Juden mit ihrer Stadt?
Lasst mich erzählen und berichten wie ein Trauernder, der nicht müde wird, die gemeinsamen Stunden und Erfahrungen, die freudevollen und notvollen Abschnitte des Miteinanders auszutauschen unter den Betroffenen, unter den Freunden und den Hinzugekommenen, um dem Schrecken seine lähmende Gewalt zu nehmen und aus der Trauerarbeit Zukunft zu gewinnen.Württembergische Geschichte: Jüdisches Leben in Württemberg ab dem 11. Jahrhundert, Verfolgung von Juden im 13. und 14. Jahrhundert.
Das Verständnis für die Geschichte der Juden in Ludwigsburg lässt sich nicht allein aus der Betrachtung der Ereignisse in unserer Stadt hier zutreffend gewinnen, es müssen vielmehr auch die Vorgänge, die ganz Württemberg betrafen oder von dort ausgingen, mit erwähnt werden. Wir wollen darum ein Stückweit zurückblicken.
Die ältesten Zeugnisse jüdischer Ansiedlung in unserem Land weisen in Heilbronn und in Schwäbisch Hall auf das 11. Jahrhundert. Vom 13. zum 14. Jahrhundert sind Mitteilungen vorhanden, die berichten, dass Juden vor allem in den Reichsstädten und dort meist in recht günstigen Verhältnissen lebten. Aber schon 1298 und noch einmal knapp 40 Jahre später, 1335/1337 kam es zu blutigen Verfolgungen. Auch für die furchtbare Pestepidemie von 1348 auf 1349 wurden die Juden verantwortlich gemacht und hart bedrängt.
Heute wissen wir, dass sich der Zorn der Masse und die angeblich Genugtuung heischenden Aggressionen auf die Minderheiten werfen, die von der Gesellschaft freigegeben und dafür angeboten werden. Für das Gebiet des Herzogtums Württemberg wurde das Datum vom 14. Juni 1498 wichtig. In der damals beschlossenen Regimentsordnung als einer Art erster Verfassung des Landes, wurde unter anderem die Ausschließung der Juden festgestellt. Damit war bestimmt, dass sich kein Jude im Herzogtum aufhalten durfte. 1530 erneuerte Kaiser Karl V. die Ausschließungsbestimmungen, die dann Herzog Ulrich seinerseits wieder übernahm.1Absolutistische Herrscher ab dem 18. Jahrhundert beschäftigen jüdische Fachleute vor allem für ihre Finanzwirtschaft – prominentestes Beispiel: Josef Süß Oppenheimer in Ludwigsburg Der absolutistische Fürst späterer Zeit jedoch verstand sich selbst nicht an die Gesetze des Landes und an seine Ordnungen gebunden. So findet man zahlreiche jüdische Hoffaktoren im Dienst Herzog Eberhard Ludwigs, des Gründers der Stadt. Einige von ihnen erhielten die Erlaubnis, in den Residenzstädten Stuttgart und Ludwigsburg Wohnung zu nehmen.
Hoffaktoren waren meist jüdische Finanzleute, die in der Zeit des Absolutismus an Fürstenhöfen entscheidend zur Ausbildung des modernen Finanzwesens und damit auch des Merkantilismus beitrugen. Sie traten als Geldgeber für Luxusgüter, Heereslieferungen, auch im Münzwesen und dergleichen auf. Sie wurden auf diese Weise oft zu engen Vertrauten der Fürsten. Nicht selten waren solche Hofjuden bald mit ihrem Rat und ihrer Tat nahezu unentbehrlich. Andererseits aber banden die Hoffaktoren ihr Schicksal an das ihrer Herren, mit denen sie zu Reichtum und Einfluss aufstiegen und mit denen, oder von ihnen fallen gelassen, sie unter Verlust von Hab und Gut, ja ihres Lebens abstürzen konnten.2
Der am meisten bekannt gewordene Hoffaktor überhaupt ist Joseph Süß Oppenheimer. Diesem klugen, gewandten und welterfahrenen Mann, der Frankfurt, Amsterdam, Wien und Prag kennengelernt hatte, begegnete Prinz Carl Alexander im Jahr 1732 bei einer Kur in Wildbad. Damals konnte Carl Alexander noch nicht wissen, dass er ein Jahr später schon Herzog von Württemberg werden würde. Beide Männer fassten rasch Vertrauen zueinander und fanden sich bald im gemeinsamen Interesse an Geld und Einfluss verbunden. Als Carl Alexander dann (1733) die Nachfolge des Herzogs Eberhard Ludwig angetreten hatte, erfüllte sich die Vermutung, dass Oppenheimer ein idealer Finanzmann sei. Ein Jahr später zog Süß Oppenheimer nach Stuttgart und erwarb auch in Ludwigsburg zwei Häuser, am Kaffeeberg eines und in der heutigen Mömpelgardstraße ein anderes.
Die Unterstützung des finanzbegabten Süß Oppenheimers war nötig, um den Plänen des Herzogs zur Errichtung eines stehenden Heeres näherzukommen. Damit begann die Geschichte Ludwigsburgs als Garnisonsstadt. Zur Finanzierung des Hofstaates brauchte der Herzog Süß Oppenheimer ebenso, wie zur Errichtung von Manufakturen, die wiederum Geld abwerfen sollten. Es wurde die Flormanufaktur von Eberhard Huber, die Seidenmanufaktur von Johann Ludwig Reuß eingerichtet, die jedoch bald der finanziellen Unterstützung bedurften. Eine Tabakmanufaktur wurde an Kurpfälzische Schutz-Juden auf zwölf Jahre ab 1736 verpachtet. Sechs jüdische Familien zogen im Gefolge davon nach Ludwigsburg. Ihnen durfte nichts in den Weg gelegt werden.3 Sie hatten das absolute Monopol für Tabakwaren. Es galt: Jedermann ist „von Zivil- oder Militärstande bei Strafe verboten, Tabak vom Ausland zu beziehen, er sei geschenkt, gekauft, getauscht oder gefunden.“4
Süß Oppenheimer betrieb ein Kaffeehaus und gründete im Auftrag des Herzogs die erste Ludwigsburger Porzellanmanufaktur. Diese Manufakturen waren gedacht als wirtschaftlicher Ersatz an Ludwigsburg nach Abzug der Residenz. So hat Süß Oppenheimer, so problematisch seine Gestalt auch gewesen sein mag, in den knapp drei Jahren seines Wirkens mancherlei zum wirtschaftlichen Vorteil der Stadt Ludwigsburg unternommen. Allerdings waren diese Maßnahmen nur von geringem Bestand.
Nicht allgemein bekannt ist, dass Süß Oppenheimer nie die Grenze der Legalität überschritt. Auch in seinem Prozess konnten ihm Rechtsbrüche nicht schlüssig nachgewiesen werden. Freilich hatte der Herzog seinem Geheimen Finanzrat große Rechte eingeräumt und ihn stets unterstützt.
Süß Oppenheimer stürzte nach dem plötzlichen Tod seines Herzogs Carl Alexander am 13. März 1737 ins tiefste Unglück. Die volle Flut des Volkszornes ergoss sich auf den allein Übriggebliebenen. Bekannt aber ist das Wort des Herzog-Administrators Karl Rudolf, als er nach langem Zögern das Todesurteil doch unterschrieb: „Das ist ein seltenes Ereignuß, daß ein Jud für Christenschelmen die Zeche bezahlt.“5
Süß Oppenheimer war ein assimilierter Jude gewesen. Er hatte Brauch und Tracht derer übernommen, in deren Gesellschaft er verkehrte und Anerkennung suchte. Er wollte mit anderen Juden wenig zu tun haben. Es ist daher nicht richtig, zu sagen, mit ihm habe sich ein Strom von Juden in das Herzogtum ergossen.Ab dem 18. Jahrhundert können Juden sich Aufenthaltsrecht kaufen – die Herrscherinnen und Herrscher machen Kasse.
In Gebieten, die nicht zum Herzogtum Württemberg gehörten, gab es das Schutzjudentum. Juden mussten dafür, dass sie in einem Territorium geduldet wurden, also eines gewissen Schutzes sicher sein durften, oft nicht geringe Geldbeträge und Naturalien an den Herren des entsprechenden Gebietes abführen. Diese Schutzgelder waren stets billig und leicht gewonnene Einkünfte, da der jeweilige Herr nicht wesentlich anders mit den Juden umzugehen hatte, als mit all seinen sonstigen Untertanen. Solcher Schutz war kündbar, er konnte auch mit seinem Einkommen vererbt, verschenkt oder gar verpfändet werden. Schutzjuden gab es zwar nicht in Ludwigsburg selbst, doch in der näheren Umgebung.Jüdische Gemeinde in Aldingen ab 1774 – Vorläuferin der späteren jüdischen Gemeinde in Ludwigsburg Die Herren von Kaltental hatten als Dorfherrschaft von Aldingen „in der ersten Hätte des 18. Jahrhunderts Juden die Ansiedlung ermöglicht.“6 Herzog Karl Eugen von Württemberg übernahm 1750 mit dem heimfallenden Lehen Aldingen auch die jüdische Gemeinde und bestätigte deren Rechte.
„Die Freiherren von Gemmingen siedelten in dem reichsritterschaftlichen Ort Hochberg um 1750 gegen eine Aufnahmegebühr und ein jährliches Schutzgeld die ersten jüdischen Familien an“. Im Jahr 1774 wurde dort eine jüdische Gemeinde begründet. „1779 erwarb Herzog Friedrich Eugen von Württemberg die Herrschaft“ über den Ort, verkaufte aber zwei Jahre später diesen Besitz „an seinen Bruder, den regierenden Herzog Karl Eugen, der sie dem herzoglichen Hofkammergut (also seinem persönlichen Besitz) einverleibte“.7
Auf diese Weise war der Erfordernis nach Ausschließung der Juden aus dem Herzogtum Württemberg Rechnung getragen. Es lebten aber in unserer Gegend Juden auf privaten Besitztümern und im persönlichen Dienst des Herzogs als Hoffaktoren. So blieb im Prinzip die Ausschließung bis 1806 in Kraft, worauf die Landstände sorgfältig achteten.
Aldingen ist die Muttergemeinde der israelitischen Gemeinde in Ludwigsburg geworden. 1806 zählte man dort neun jüdische Familien mit 32 Mitgliedern. Die jüdische Bevölkerung vermehrte sich dann rasch, 1852 erreichte sie 122 Seelen, um danach jedoch wieder abzunehmen. In Aldingen gab es eine Synagoge, ein Frauenbad und eine Schule8 Die meisten Aldinger Juden, auch solche aus Hochdorf und Freudental, zogen im Laufe der Zeit in die naheliegende, aufstrebende Residenzstadt und vergrößerten dort die Gemeinde entsprechend.
1832 wurde die israelitische Religionsgemeinde Ludwigsburg zur Filiale der Synagogengemeinde Aldingen erklärt. 54 Jahre später (1886) aber lebte kein einziger Jude mehr in Aldingen. Zur Zeit ihrer Gründung hatte die Filialgemeinde Ludwigsburg etwa 70 Mitglieder.
Diesem Stand der Entwicklung war die Diskussion vorausgegangen, ob die Ludwigsburger Juden die Gottesdienste in Aldingen besuchen oder die Aldinger Juden an den Gottesdiensten in Ludwigsburg teilnehmen und sie damit die jeweilige Gemeinde stärken könnten. Doch die Entfernung war größer, als sie am Sabbat zurückgelegt werden durfte9. So konnten beide sich nicht besuchen, es sei denn, die Frommen wären von Freitag auf Samstag über Nacht geblieben.
Wie waren die Verhältnisse zu Anfang des 19. Jahrhunderts? Im damaligen Württemberg lebten unberührt vom Gesetz der Ausschließung 534 jüdische Menschen, wie schon gesagt, als Hoffaktoren und in nichtkorporierten Gebieten. Als Herzog Friedrich II. 1803 die Würde eines Kurfürsten erlangt hatte, fügte die damit verbundene Gebietsvergrößerung etwa 120.000 neue Untertanen zu denen des alten Herzogstums hinzu. Unter diesen waren damals allerdings nur wenige Juden. „Erst die späteren Gebietserweiterungen vom Preßburger Frieden am 26. Dezember 1805 bis zum Jahr 1810 brachten Juden in größerer Zahl mit den als Neuwürttemberg bezeichneten Gebieten an das Land. Sie wird mit 7.000 Seelen angegeben. Die Gesamteinwohnerzahl Württembergs war von 650.000 im Herzogtume auf 1.400.000 im Jahr 1810 gestiegen“.10 Die relative Zahl der Juden in Württemberg betrug demnach 0,5 Prozent.1806 bis 1924 – lange Auseinandersetzungen bis zur rechtlichen Gleichstellung von Juden mit anderen WürttembergernAm 1. Januar 1806 verkündigte Kurfürst Friedrich die Annahme der Königswürde. Er hatte kurz vorher die ständische Verfassung für aufgehoben erklärt. Der neue König gab am 10. Juni 1806 der Oberlandesregierung den Auftrag, eine die Verhältnisse der Juden in den genannten königlichen Staaten umfassende Ordnung zu entwerfen. Zwei Jahre später konnte der Entwurf einer „Ordnung für die Juden in den Kgl. Staaten“ vorlegt werden. Der erste Artikel dieses Entwurfes lautete: Jeder zur jüdischen Religion sich bekennende Einwohner unseres Königreiches hat der Regel nach gleiche Rechte und Verbindlichkeiten wie die christlichen Einwohner desselben, und ist, insofern nicht die gegenwärtige Verordnung eine Ausnahme festsetzt, denselben Gesetzen wie diese unterworfen.11
Wir hörten schon, dass im Hause Elsas der jüdische Betsaal bestand, nachdem sich die Gemeinde entschlossen hatte, eine neue, schöne große Synagoge zu bauen. Damals hatte die Gemeinde 210 Seelen. Im Dezember 1884 wurde die Synagoge eingeweiht. Hilfe war freilich nötig und wurde auch gerne gewährt. Den Juden der Stadt wurde ihre Synagoge wohl gegönnt an einem guten Platz beim Feuersee. Der Staat gab eine Zuwendung von 2.500 Mark, und wie kaum anders zu erwarten, stiftete die Familie Elsas die Orgel.
Dieser Entwurf, der im erwähnten Artikel recht positiv klingt, wurde aber von dem aufgeklärten König nicht genehmigt, weil in ihm zu viel Intoleranz bekundet sei. Mit Einzelverordnungen suchte die Regierung dann anstehende Fragen vorläufig zu klären. Da aber beispielsweise über Schulen und Schulpflicht nichts ausgesagt war, wuchsen die jüdischen Kinder recht wild daher und das Bildungsgefälle gegenüber den anderen Einwohnern im Lande war nicht zu übersehen. Im Jahr 1816 starb der König.
1819 wurde die neue Verfassung unter König Wilhelm I. beschlossen; aber sie erwähnt die Sache der Juden nicht. Insgesamt war diese Verfassung für die Juden ungünstiger als der abgelehnte Entwurf von 1808. So war nun die Regierung wegen ihrer Verantwortung für alle Bürger gezwungen, für die jüdischen Untertanen etwas Geeignetes zu unternehmen. Ein entsprechender Antrag wird 1820 in den beiden Kammern eingebracht. Darin wird die Frage untersucht, welcher Rechte die Juden im allgemeinen für fähig zu erklären seien. Eine Kommission wird gebildet aus Vertretern des evangelischen Consistoriums, des katholischen Kirchenrates, des königlichen Obertribunals, der Regierung und der Kammer der Abgeordneten. „Auch könnten vier bis sechs Juden gehört werden.“12 Erstmals also konnten Juden in ihrer eigenen Sache zu Wort kommen.
Allein schon die Behandlung dieser Fragen führte besonders in den Städten zu starken antijüdischen Agitationen. Die Sorge bei auch nur angenäherter Gleichberechtigung der Juden werde deren Einfluss übermächtig werden, war Ursache dafür. Eine Befürchtung, die wohl nie wirklich zurecht bestand.
Kurzum – die Sache zieht sich hin bis 1828. Am 1. März stimmt die als Standesversammlung jetzt allein tagende Zweite Kammer dem Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen mit 61 gegen 17 Stimmen zu. Der König sanktionierte am 25. April des Jahres. Ein Betrag aus der Staatskasse für Zwecke des israelitischen Kirchen- und Schulwesen, sowie, wenn nötig, auch für den israelitischen Central-Kirchenfonds, wird versprochen. Erstmals gibt der Staat offiziell den Juden finanzielle Zuwendungen. Die Freude war groß, aber Bedenken blieben. Das Gesetz schrieb das fest, was eben noch durchsetzbar war im damaligen Staat mit seinem Parlament. Dieses Gesetz war ein Erziehungsgesetz, das den neuen Staatsbürgern Einschränkungen auferlegte, wie einem zu erziehenden, langsam erst mündig werdenden Kinde. Deutlich macht die Präambel des Gesetzes „die Absicht, die öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubens-Genossen im Königreich […] mit der allgemeinen Wohlfahrt in Übereinstimmung zu bringen und die Ausbildung und Befähigung dieser Staats-Angehörigen zum Genusse der bürgerlichen Rechte […] möglichst zu befördern“. Die Gleichstellung der Juden mit den christlichen Staatsbürgern blieb also bedingt.
Manche Härte barg das Gesetz. Die Juden bewerteten diese Regelung aber überwiegend positiv, weil sie ihnen ,.für alle Verhältnisse des Lebens eine klare, durch Gesetz geordnete Grundlage“ gab. Das Land, das bisher den Juden nur gefühlsmäßig die Heimat war, wurde ihnen jetzt auch gesetzmäßig eine solche. Aus den „Fremden“ waren Württemberger geworden. Fast 100 Jahre blieb dieses Gesetz in Geltung.13
Das neue Gesetz sah eine einheitliche Leitung für alle jüdischen Gemeinden im Lande vor. Ihr Name war Israelitische Oberkirchenbehörde. In unseren Ohren mag das seltsam klingen, es wird damit aber die neue Stellung der israelischen Gemeinden neben den Kirchen deutlich gemacht. Die erste Aufgabe der neuen Oberkirchenbehörde war es, die israelitischen Gemeinden im Lande neu einzuteilen. Es gab 69 Gemeinden im Jahr 1828, 51 Rabbiner und 67 Vorsänger. Daraus sollten jetzt 13 Rabbinate mit 41 Gemeinden neu gestaltet werden. So wurden rigorose Auswahlprüfungen für Rabbiner durchgeführt. Es galt, eine Erste und Zweite Dienstprüfung wie bei Staatsbeamten oder bei Pfarrern zu absolvieren. Nur sechs Rabbiner von 51 bestanden diese Prüfung, alle anderen wurden entlassen.
Aldingen mit Ludwigsburg war neben Stuttgart, Esslingen und Hochberg zum Rabbinat Stuttgart gefasst worden. Einen Rabbiner hatte Ludwigsburg nie, aber einen Vorsänger/Lehrer, der den Gottesdienst zu leiten und Unterricht zu erteilen hatte.
Nachdem die jüdische Gemeinde in Aldingen, wie schon erwähnt, ab 1886 nicht mehr bestand, trat Ludwigsburg an ihre Stelle im Rabbinat Stuttgart. Die Landflucht, verbunden mit einer großen Auswanderungswelle von 1848 bis 1855 (aus Aldingen wanderten drei Juden aus, von Ludwigsburg keiner) veränderte die Verhältnisse in jenen Jahren drastisch. Lebten 1832 rund 93 Prozent aller württembergischen Juden auf dem Lande, so waren 1932 dann 78 Prozent in den Städten zuhause. Dabei blieb in jener Zeitspanne die Gesamtzahl von 10.000 bis 11.000 Juden in Württemberg fast konstant.
Schon im März 1845 wurde ein Änderungsentwurf des Gesetzes von 1828 der Ständeversammlung vorgelegt. Jedoch die Vorgänge im Jahr 1848 überholten diese Bestrebungen. Die von der Nationalversammlung in Frankfurt beschlossenen Grundrechte des deutschen Volkes brachten den württembergischen Juden die wichtigsten bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte. Als diese Grundrechte aber im Jahr 1851 aufgrund eines Beschlusses der Bundesversammlung wieder aufgehoben wurden und damit für die Juden die Rechtslage von 1828 hätte wieder hergestellt werden sollen, hat dies allenthalben einen Schmerzensschrei der Israeliten hervorgerufen. Daraufhin wurden die erlangten Rechte den Juden belassen und nicht wieder eingeschränkt.
Aber erst das Gesetz von 1861, das „in der II. Kammer mit 80 gegen 1 Stimme, und in der I. Kammer mit 24 gegen 12 Stimmen angenommen“ wurde, brachte die völlige Gleichstellung für die Juden. Es bestand nur aus einem einzigen Artikel: „Die staatsbürgerlichen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Damit war den Juden auch das aktive und passive Wahlrecht zur Ständeversammlung gegeben.
Drei Jahre später wurden auch die bürgerlichen Verhältnisse der israelischen Glaubensgenossen durch Gesetz geregelt. Es ging dabei um die Eidesformel und Ehesachen. Wobei allerdings das Verbot der Heirat zwischen Juden und Christen bestehen blieb. Erst im Jahr 1869 wurde diese Einschränkung aufgehoben. Seit dieser Zeit wuchs die Gemeinde in Ludwigsburg stetig. Die Möglichkeiten, in der Stadt zu leben und zu arbeiten, waren recht günstig, da auch die Wahl des Aufenthaltes und des Berufes keiner Beschränkung mehr unterlag.14
Wir sehen, wie zögernd und mit welch kleinen Schritten die Gleichstellung der Juden vorangebracht werden konnte. Mit der Oberkirchenbehörde aber hatten die Juden in Württemberg ein ganz wichtiges Instrument erlangt, ihrer eigenen Sache Gehör zu verschaffen.
Es war ein Nachfahre der eingangs erwähnten Freiherren von Gemmingen, der in der Sitzung der II. Kammer 1899 die Petition von 76 Ulmer Israeliten aus dem Jahr 1897 um zeitgemäße Regelung der Rechtsverhältnisse der Israeliten wieder einbrachte. Darin ging es um die Gleichstellung der israelitischen Religionsgemeinschaft mit den Kirchen. Es dauerte lange, aber am 16. September 1912 wurde das Gesetz betreffend die israelitische Religionsgemeinschaft erlassen, dessen erster Artikel, Absatz 1, lautet: „Die israelitische Religionsgemeinschaft ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts.“15
Die Notwendigkeit von Neuordnungen veranlasste die Israelitische Oberkirchenbehörde auch selbst, Schritte auf eine Verfassunggebende Versammlung hin für die israelitischen Religionsgemeinschaften zu unternehmen. Diese Versammlung wurde 1920 gewählt. Am 18. März 1924 wurde die neue Verfassung der israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs16 einstimmig angenommen. Mit ihr war auch der dem Judentum fremde Begriff Kirche verschwunden. Aus dem Vorsänger wurde der israelitische Religionslehrer.
426 Jahre hatte der Prozess von der „Ausschließung“ bis zum voll gleichberechtigten Stand für die Juden in unserem Land in bürgerlichen, staatsbürgerlichen und kirchlichen Rechten gedauert. Doch wir wären heute hier nicht versammelt, wenn es dabei geblieben wäre.Ludwigsburger Geschichte: Erste jüdische Familien ab 1764, ein erster Betsaal ab 1824. Juden durften als Handwerker arbeiten: 1852 kommt der Weber und spätere Textilfabrikant Benedikt Elsas aus Aldingen nach Ludwigsburg. 1873: Das erste Grab auf dem jüdischen Friedhof wird für einen französischen und einen deutschen Soldaten, beide aus jüdischen Familien, beide im Ludwigsburger Lazarett gestorben, gemeinsam genutzt: „Feinde im Leben, im Tode vereint“.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich knüpfe an an das, was wir von Ludwigsburg selbst wissen. Jüdische Familien erscheinen noch bis 1764 in den hiesigen Seelenregistern. Doch in den folgenden 50 Jahren waren in Ludwigsburg keine Juden ansässig.17 Entweder haben wir bis heute eine Lücke in unserer diesbezüglichen Information oder es kamen Juden tatsächlich erst wieder Anfang des 19. Jahrhunderts in unsere Stadt, nachdem die Ordnungen es erlaubten, auf dem Territorium des Kurfürstentums und Königtums zu leben. 1803 werden vier jüdische Familien und 1810 dann 32 jüdische Einwohner in Ludwigsburg genannt.
Schon für das Jahr 1817 findet sich ein Hinweis, dass im Hause, das einst Süß Oppenheimer (Mömpelgardstraße 18) gehört hatte, der damalige Besitzer Wolf Judas, später Wolf Jordan genannt, einen ersten Betraum eingerichtet hatte.
Sieben Jahre später (1824) stellte dann Wolf Judas den Antrag, einen Betsaal in seinem Garten errichten zu dürfen. Das Gebäude aus Holz war angelehnt an die nördliche Gartenmauer. Es enthielt unter anderem einen Betsaal mit einem Frauenstand im Westen, auf dem Plan „Sinagoge“ genannt, und ein heizbares Wohnzimmer als Schulsaal. Wolf wird um 1830 als Vorsänger genannt. Die jüdische Gemeinde zählte in Ludwigsburg damals etwa 40 Seelen. Erst 1920 wurde diese Synagoge abgetragen.
Mit der Regelung von 1828 ergab sich die Möglichkeit für junge Juden, ein Handwerk zu erlernen; dafür sogar Unterstützung zu bekommen (Erlass vom 12. April 1833) wenn es ein schweres Handwerk wie Schmied, Schlosser, Maurer, Zimmermann oder Wagner war.18 Metzger und Weber waren beliebte Lehrberufe. Unter den 1.300 jüdischen Handwerkern gab es 1852 in Württemberg 412 Metzger, 274 Weber19. Nicht selten sträubten sich die Innungen und machten den jungen jüdischen Burschen die Aufnahme schwer.
Im Jahr 1852 kam der 1816 in Aldingen geborene Benedikt Elsas nach Ludwigsburg und erwarb das Gebäude Marstallstraße 4. Er hatte das Weberhandwerk gelernt und stellte sich mit 22 Jahren dem Zunftobermeister zur Meisterprüfung. „Er bestand die Prüfung. Später sagte er, der Zunftobermeister habe ihm einen arg durcheinandergebrachten Strang Garn gegeben, den er in kurzer Zeit umspulen sollte und habe es wohl gar nicht gerne gesehen, dass ein so junger Mensch schon Meister werde.“20
Das Werk gelang wohl und es ergaben sich Arbeitsplätze für Ludwigsburger an den 70 bis 82 Handwebstühlen dieser Fabrikation. In den 1860er Jahren stellte er seine Firma auf Dampfkraft um und richtete mechanische Webstühle ein. Das Werk florierte und seine vier Söhne wandten sich alle der Textilbranche zu. Sie übernahmen später des Vaters Benedikt Lebenswerk.
Die jüdische Gemeinde war auf 77 Seelen angewachsen. Die Toten wurden auf dem jüdischen Friedhof bei Hochdorf beigesetzt. Mit der Zeit wurde der Wunsch laut, einen eigenen Friedhof in Ludwigsburg zu haben. Der Schmied Samuel Schreiber stellte dafür sein 1847 durch Tausch erworbenes Grundstück östlich des Alten Friedhofs mit vier Ar Größe zur Verfügung. Dieser neue Friedhof, von einer Mauer umgeben, wurde von Nordosten her belegt. Letzter Anstoß für die Einrichtung eines eigenen Friedhofes mag der Tod zweier jüdischer Soldaten im Jahr 1870 gewesen sein und die sich daraus ergebende Absicht, ein würdiges Kriegerdenkmal durch die jüdische Gemeinde errichten zu lassen.
In dieses erste Grab wurden ein deutscher und ein französischer Soldat, beide jüdischen Glaubens, die im Ludwigsburger Lazarett gestorben waren, gelegt. Es waren Heinrich Heydemann vom 48. Infanterie-Regiment und Isidor Michel vom 17. französischen Artillerie-Regiment. „Männer des Heeres, Helden des Krieges, Feinde im Leben, im Tode vereint“ steht auf dem Denkstein. Zum 8. August 1873 hatte das israelitische Kirchenvorsteheramt eingeladen. Vertreter der Stadt, Gemeinde, der Vereine und zahlreiches Publikum wohnten der Einweihung dieses Kriegerdenkmales bei. Vorsänger Kahn hielt die festliche Rede (vergl. Ludwigsburger Tagblatt 1873, Seite 738).
Auf diesem Friedhof findet sich als siebtes Grab das von Benedikt Elsas, der 1876 starb. Die hebräische Inschrift lautet: „Hier ist begraben der Mann (Benedikt Elsas), Krone seiner Frau und seiner Söhne, er errichtete sein Haus in Größe und Fleiß und gab mit seinen Händen den Armen (unter Gottes Himmel). Begraben am Mittwoch 12. Adar 5635 nach Erschaffung der Welt. Es sei seine Seele eingebunden in das Bündel der Lebendigen. Benedikt Elsas geboren am 26. Juli 1816, gestorben am 8. März 1876.“
Unweit davon befindet sich der Grabstein seiner Frau Rebekka, die über 90 Jahre alt wurde. Dessen Inschrift lautet: „Hier ist begraben von guter Gesinnung alle ihre Tage, Schmuck ihres Mannes und Pracht ihrer Kinder; sie spendete Gutes und Barmherzigkeit Zeit ihres Lebens, Frau Ribka, Frau von Pichas Bar Ischak, gestorben 4. Kislev 5669 nach Erschaffung der Welt. Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel der Lebendigen. Rebekka Elsas 1818 –1908.“
Dies sind zwei uns bekannte Persönlichkeiten, die in unserer Stadt ihr Haus der Ewigkeit, wie die Israeliten das Grab nennen, haben. Frau Rebekka Elsas hat, nachdem die „Sinagoge“ in der Mömpelgardstraße im Jahr 1883 gekündigt worden war, ein Zimmer in ihrem Haus als provisorischen Betsaal zur Verfügung gestellt, solange der Bau der neuen Synagoge andauerte.
Max Elsas (er war der Sohn Benedikts) ist ein Name, der nicht nur für die jüdische Gemeinde in Ludwigsburg bedeutend war, sondern der ganzen Stadt zur Ehre gereicht. Er steht in hervorragender Weise für das gute, unbeschwerte Verhältnis zwischen Juden und Christen in Ludwigsburg zu jener Zeit. Seine Aktivitäten, weil kaum mehr bekannt, seien als ein Beispiel jüdischer Bürgerschaft vollständig aufgezählt. Neben dem, dass er einem florierenden Fabrikbetrieb in der Stadt mit seinen Brüdern vorstand, engagierte er sich in folgender Weise: Er war bei der Feuerwehr, wie 30 weitere jüdische Bürger in jener Zeit, war Mitglied des Bürgerausschusses von der Demokratischen Partei aus, 1. Stellvertreter des Stadtvorstandes, von da aus im Verwaltungsausschuss, im technischen Ausschuss und im Gasausschuss, ferner Mitglied im Handelsschulrat, in der Handelskammer, im Ausschuss der Landesversicherungsanstalt, in der Invalidenversicherung, Vorstandsmitglied der Ortskrankenkasse, Vorsitzender der Angestelltenversicherung, er saß in den Steuerausschüssen des Finanzamtes, war Schatzmeister des Industrieverbandes, des Gewerbevereins und des Kanalvereins. Während des Krieges war er Oberbürgermeister-Vertreter, Vorsitzender der Kriegshilfe in Stadt und Bezirk, richtete eine Kriegsküche für die Ärmsten ein.
So dürfen wir davon ausgehen, dass es kaum einen Bürger in der damaligen Stadt gab, der nicht direkt oder indirekt Gewinn aus dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einsatz der Familie Elsas zog. Max Elsas hatte als Patriot, der er war, den größten Teil seines Privatvermögens als Kriegsanleihe gezeichnet und später dann verloren. Am bekanntesten ist wohl geworden, dass er sich, als Leder im Krieg für die Rüstung fehlte, mit seinen Teilhabern entschloss, die Antriebsriemen der Webstühle herzugeben und den Betrieb bis Kriegsende stillzulegen. Zwei seiner Neffen, Benno und Berthold, fielen im Ersten Weltkrieg; Benno gleich in den ersten Tagen.
Wahrlich, er hat sich gehalten an das Wort des Propheten Jeremia: „Suchet der Stadt Bestes“ (Jer. 29,7)1884: Bau der Ludwigsburger Synagoge durch die Reform-orientierte Gemeinde als Ausdruck der Sicherheit, in Ludwigsburg eine Heimat gefunden zu haben. Berichte von bester Nachbarschaftlichkeit von Ludwigsburger/innen christlichen und jüdischen Glaubens im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben.
Es muss ein großes Fest gewesen sein, als die von Architekt Baumgärtner erbaute Synagoge fertig war. Sie war ein quadratischer Zentralbau mit Mittelrisaliten an allen vier Seiten, einer erhobenen Vierung und einer darüber stehenden Laterne. Sie stand, wie es die Regel vorschrieb, auf einer leicht angehobenen Fläche und überragte mit dem zentralen Türmchen die Häuser der Nachbarschaft. Auf dem östlichen First waren die beiden Gebotstafeln zu sehen. Die Apsis nach Osten barg den Thoraschrein. Das Gebäude war in neuromanischem Stil gehalten. Eine halbhohe Mauer mit eisernem Gitter umgab die Anlage. Die Erstellung einer Orgel in der Synagoge weist darauf hin, dass sie als Reform-Synagoge verstanden werden wollte. Auch die Verwendung der deutschen Sprache in den Synagogengottesdiensten war in der Stadt üblich.
Der Oberkirchenrat Dr. Joseph Maier, er wurde später vom König geadelt, wiederholte immer wieder, dass eine Reform der Gebete, besonders in den Stadtgemeinden und von der jungen Generation erwartet werde, denn in ein paar Jahrzehnten würden nur noch wenige Juden Hebräisch verstehen. Israels alter Wunsch nach Wiederherstellung des Tempels und Rückkehr in seine Heimat sei nur ein nostalgisches Sehnen in der Vergangenheit, „nun da wir eine Heimat gefunden haben“ meinte der aufgeschlossene und gelehrte Rabbiner damals.21
Dies war für die Ludwigsburger Juden bezeichnend: Sie gehörten durchgängig der liberalen Richtung (Reform-Synagoge) an, sie verstanden sich als Deutsche unter Deutschen, sie zeigten sich als Patrioten und waren ihrer Heimat in diesem Land und in dieser Stadt so gewiss, dass die Erwartung einer Rückkehr ins Heilige Land keine lebensgestaltende Rolle mehr spielte. Welche, wenn nicht Bürger wie Max Elsas, durften der allgemeinen Wertschätzung in Ludwigsburg gewiss sein?
Berichtet wird in dieser Zeit von selbstverständlichen Handelsbeziehungen aller Art. Bezug und Lieferung von Waren und Leistungen zwischen Juden und anderen Bürgern der Stadt fielen niemandem negativ auf. Auch davon, dass mancher mit Krediten von Juden seine berufliche Existenz begründen konnte, wird berichtet.
Von Kinderkontakten und Freundschaften in der Nachbarschaft ist oft die Rede. So durften die Nachbarskinder einer jüdischen Familie in der Passahzeit beliebig viele von den begehrten Matzenbroten nehmen, die die Hausfrau in einem Sack für Gäste bereithielt. Die kleine Tochter des Zimmermeisters, die die Rechnungen des Vaters zustellen musste, erhielt dafür bei jüdischen Kunden einmal eine Schokoladentafel, ein andermal einen Ball. Im Hause Dr. Pintus gab es für Kinderbesucher köstliche Äpfel. Schallplattenmusik vom Grammophon erfreuten die Herzen der Freundinnen der Tochter des Hauses.
Oder war im Notfall die eigene Mutter nicht zugegen, spendete auch die jüdische Nachbarin dem verunglückten Kind lindernden Trost. Anderswo durften die Kinder am Sabbatmahl teilnehmen. Das Fußballspiel mit den jüdischen Buben, die vor dem Betsaal auf den Unterricht warteten, war selbstverständlich. Berichtet wird, dass einige Buben aus der Unteren Stadt von Dr. Schmal einen Fußball geschenkt bekommen hätten.
Schon eine besondere Zuwendung war diese: Die kleine Tochter der Reinemachefrau im Kaufhaus Stern wartete auf ihre Mutter und saß schließlich weinend auf der Treppe im dritten Stock, nahe der Schneiderei. Da kam Frau Stern, eine zierliche weißhaarige Dame vorbei und fragte nach dem Grund des Kummers der Kleinen. Sie antwortete: „Bald ist Kommunion und wir haben kein Geld für ein festliches weißes Kleid“. Da ließ Frau Stern beim Kinde Maß nehmen und übergab dem Mädchen acht Tage später das fertige Festkleid, dazu Unterwäsche und Strümpfe und nicht vergessen war ein Gutschein für eine Kommunionskerze beim Seifen-Hopf. Zu Weihnachten gab es dann eine Puppe und für den jüngeren Bruder Schuhe, der als seine Erstkommunion anstand, auch ausgestattet wurde. Die schöne große Kerze konnte noch einmal verwendet werden.
Es gab in dieser Zeit in Ludwigsburg von Juden betrieben 5 Fabriken 3 Kaufhäuser 2 Einzelhandelsgeschäfte 1 Altwarenhandlung 4 Pferdehandlungen.
Interviews mit Persönlichkeiten unserer Stadt, die an jene Zeit noch Erinnerungen haben und darüber zu sprechen bereit waren, ergaben übereinstimmend mit schriftlichen Zeugnissen einhellig und ohne Idealisierung, dass das Verhältnis der Juden zu den anderen Bürgern der Stadt und umgekehrt unkompliziert, normal und freundlich gewesen war. Schon vor der Jahrhundertwende wurden bei offiziellen Anlässen die Vertreter der jüdischen Religionsgemeinschaft regelmäßig ebenso eingeladen, wie die der Kirchen. Bei Fest- und Dankgottesdiensten feierten die Juden am Samstag davor. Als beliebiges Beispiel sei die kirchliche Feier des Verlobungsfestes der Prinzessin Pauline am 27. März 1898 genannt. An keiner wichtigen öffentlichen Veranstaltung der Zeit damals fehlten die Juden.
Selbstverständlich wurde ihnen, als der Neue Friedhof angelegt war, auch ein Feld mit einer Ummauerung zur Verfügung gestellt. Die evangelische Kirchengemeinde, die 1897 angefragt wurde, ob sie Einwände gegen die Errichtung eines israelischen Friedhofs hätte, teilte mit, dass nichts derartiges vorzubringen sei.
Am Krieg 1914/18 nahmen die Ludwigsburger Juden ebenso teil wie alle Bürger der Stadt und gaben das Ihre an der Front und in der Heimat. Sechs jüdische Männer sind gefallen.
Ein fast vergessener Vorgang aus dieser Zeit sei erwähnt: Die Vereidigung der jüdischen Soldaten war nicht einheitlich geregelt. Teils zogen die christlichen Soldaten in evangelische und katholische Kirchen und ließen die Juden auf dem Kasernenhof zurück. Oder wie in Heilbronn, wo alle drei Geistlichen auf dem Kasernenhof gemeinsam bei der Vereidigung gegenwärtig waren. Nach Vereinbarung hielt dort immer der Rabbiner die Ansprache. 1916 wurde vom Württembergischen Kriegsministerium angeordnet, dass die jüdischen Soldaten in Synagogen vereidigt werden sollten. Die erste derartige Handlung, bei der die jüdischen Soldaten nach der Vorbereitung durch den Rabbiner, Oberkirchenrat Dr. Krohner, von einem Offizier auf dessen Degen vereidigt wurden, fand in der Ludwigsburger Synagoge am 11. Juli 1916 statt.22
Gemeinsam mit allen anderen Bürgern trugen die Juden auch die Last der Nachkriegszeit und bauten sich ihre Existenzen, so gut es ging, wieder auf. Ausgesprochen arme Juden soll es auch in den 1930er-Jahren in Ludwigsburg nicht gegeben haben.
Drei Ärzte und zwei Rechtsanwälte hatten Praxen in Ludwigsburg23. Die häufigsten Familiennamen waren Dreyfuß, Elsas, Israel, Kahn, Kaufmann, Kusiel, Ottenheimer, Schmal, Stern, Strauß und Wertheimer. Ein weiterer Name sei genannt, weil dieser Mann und seine Familie hoch angesehen und geschätzt und von den Kindern geliebt war: Dr. Walter Pintus. Der kleine Mann, wegen einer Hüftluxation hinkend, war unermüdlich für seine Patienten da. Er sah nicht nur die Krankheiten, sondern auch andere Nöte, die die Menschen plagten. So hat er manchem mittellosen Patienten das Honorar erlassen. Den Ärmsten gab er zu Essen mit. „Frau hol Mittagessen für die arme Leut“, soll er manchmal aus der Praxis gerufen haben. Er sagte zu allen Leuten „Du“. Oft war er über Jahrzehnte der Hausarzt ganzer Familien. Kinder hatten keine Angst vor ihm, liefen gerne seinem Kütschle nach, wenn er Hausbesuche machte. Im Winter fuhr er nach den Berichten manchmal auch mit einem Schlitten. Auf dem Weg nach Oßweil durften Kinder ein Stück auf den Kufen stehend mitfahren, und sie warteten dann, bis der Doktor seine Besuche erledigt hatte, um mit ihm wieder zurückzugleiten. Liebe- und wohl auch sorgenvoll nannte er die Mädchen mit ihren leichten Kleidern im Winter „ihr Mädle mit eure Schwendsuchtshemedle“. Gerade heraus konnte er sein, so zu einem alten Oßweiler Bauern, der im Sterben lag, zu dem er sagte: „Jetzt wird nemme g’fackelt, jetzt wird g’schtorbe“. Neben dieser Leutseligkeit und Freundlichkeit galt er als ein hochgebildeter und belesener Mann. Seine Bibliothek hat jeden, der sie kennen lernte, in Erstaunen versetzt.
Bei allem Patriotismus und in der Gewissheit, dass solchen Juden, wie sie in Ludwigsburg lebten, nichts Schlimmes passieren könnte, stand er jenem neuen Regime sehr skeptisch gegenüber und warnte seine Freunde, sich darauf einzulassen. Und doch hat der Mann, der im Weltkrieg Lazarettarzt gewesen war, als wieder die schwarz-weiß-roten Fahnen gezeigt werden konnten, als einer der ersten eine solche erworben. Vielleicht auch, um gegen das Beflaggungsverbot für Juden zu opponieren.
Ein Beispiel für den selbstverständlichen Einsatz eines jüdischen Bürgers auch im Vereinsleben der Stadt soll Erwähnung finden: Otto Israel war Gründungsmitglied und der erste Kassier des Schwimmvereines Ludwigsburg 08 e.V.. Er leitete den Verein als Erster Vorsitzender von 1912 bis 1920 und wurde um seiner Verdienste willen zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Ein Bild zeigt ihn später mit Kriegsauszeichnungen.24
Kaum einer in Ludwigsburg hatte Grund zur Klage gegen einen Juden und wenn, dann gewiss nicht mehr, als gegen andere Zeitgenossen auch. So stellte Beate Maria Schüßler fest. „Tatsache ist, dass während der Jahre von 1928 bis 1942 in Ludwigsburg kein Fall bekannt wurde, in dem ein jüdischer Bürger das Recht verletzt, das Gesetz übertreten hatte“.25
Die Juden in Württemberg und damit auch in Ludwigsburg konnten sich genau neun Jahre lang der vollkommenen bürgerlichen, staatsbürgerlichen und religiösen Gleichbehandlung erfreuen (seit 18. März 1924). Und dann brachen alle für sie und durch sie in Jahrhunderten erworbenen, erkämpften, erarbeiteten und erlittenen Rechte zusammen.Biografische Beispiele: Familie Elsas, Dr. Walter Pintus – beliebt und integriert, dann ausgegrenzt, verfolgt, ermordet. Beispiele für solidarisches Verhalten aus der nichtjüdischen Bürgerschaft.
Nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 begann schlagartig die Judenhetze offen aufzuflammen. Die Rede von Julius Streicher am 18. Februar 1933 im Bahnhotel, heute Musikhalle, ließ nicht den geringsten Zweifel an der Absicht der neuen Machthaber, die Juden zu vertreiben. Auf sie wurde die Ursache aller vergangenen und in der Zukunft zu erwartenden Nöte Deutschlands, ja der Weit, projiziert. Schon am 29. März 1933 waren in Ludwigsburg einige übereifrige SA-Leute vor jüdische Geschäfte gezogen und hatten dort Aufstellung genommen. Sie mussten wieder abgerufen werden. Am Samstag, den 1. April begann dann um 10.00 Uhr in der ganzen Stadt, wie überall im Land, der Boykott. Er galt allen Geschäften der Juden, den drei Arztpraxen und einer Rechtsanwaltspraxis. Noch kam es den Tag über nicht zu Tätlichkeiten gegenüber Personen, noch wollten sich viele Ludwigsburger nicht einfach von ihren guten Beziehungen zu jüdischen Geschäftsleuten trennen. „Trotz aller Parteischikane hatte der Boykottaufruf in Ludwigsburg doch nicht den von den Nationalsozialisten gewünschten Erfolg“.26
Wenige Tage danach war eine andere Stimme zu hören, die allerdings nicht sehr weit und nicht lange hallen sollte. „Am 9. April 1933 nahm eine Abordnung des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten im Schlosshof an der Vereidigung der Rekruten der Reichswehr teil. Der Kommandeur wandte sich in seiner Ansprache ausdrücklich gegen jede Diskriminierung von Bürgern: ‚Ihr wisst, die Armee kennt keine Gegensätze der Klasse, des Standes, Religion oder des Stammes. Wir dienen und gehören dem ganzen Volk - unterschiedslos“‘ 27
Für manchen aber waren die Zeichen eindeutig. Schon im Jahr 1933 wanderten elf Juden aus Ludwigsburg aus. Bis 1938 entschlossen sich 90 jüdische Personen zu diesem Schritt. Da 1933 noch 197 Juden in der Stadt lebten, bedeutete dies, dass fast die Hälfte der jüdischen Bürger Ludwigsburgs bis dahin das Land verlassen hatte, und dies ausnahmslos unter ganz erheblichen Verlusten an Hab und Gut.
Manchmal kann man noch heute die Meinung hören: „Hätten diese Männer und Frauen nicht so lange gezögert, das Land zu verlassen, wären sie großer Not entgangen“. Man möge aber verstehen, dass Emigration einen Entschluss bedeutete, den viele Juden lange nicht vollziehen konnten. Hofften doch die meisten, dass die Gerechtigkeit und der Rechtssinn der anständigen Deutschen und der Völker der Weit diesem Regime rasch ein Ende bereiten werden.
Zum anderen hatte die Emigration für alle einen gewaltigen Absturz aus ihrer sozialen und wirtschaftlichen Position zur Folge, wenn zum Beispiel aus dem Betriebsleiter der Hofkehrer wird oder der selbständige Kaufmann als Landarbeiter seinen Unterhalt verdienen muss und dies oft bei mangelnden Sprachkenntnissen im fremden Land, meist nur geduldet und ohne irgend eine Vorstellung, wie das Leben weitergehen soll.
Mit fortwährenden und immer weitergehenden Schikanen wurden die Juden auch in unserer Stadt drangsaliert. Am 7. April folgte das Gesetz zur Wiederherstellung des deutschen Beamtentums auf Grund dessen alle beamteten Juden entlassen wurden, ohne Anspruch auf Ruhegeld. Im Juli wurde dem Lungenfacharzt Dr. Ludwig Elsas, einem Sohn des Max, die Kassenzulassung entzogen und er der Funktion des Vertrauensarztes enthoben. Das bedeutete den Verlust von 95 Prozent seines Einkommens. Man bedenke, wir sind damit noch im Jahr 1933.
Der September 1935 brachte die berüchtigten „Nürnberger Gesetze“. Es kam zur Diskriminierung der Kinder in den Schulen auf verschiedene Weise. Der Samstag wurde damals zum Staatsjugendtag erklärt. An Veranstaltungen solcher Samstage durften die jüdischen Kinder nicht teilnehmen. Wenn auf dem Schulhof die Flagge gehisst wurde, konnten sie nicht anwesend sein, weil ihnen verboten war, die Flagge zu grüßen. Der Schwimmunterricht wurde für sie gestrichen, in einzelnen Fällen auch der Musikunterricht.28
Immer wieder berichteten mir übereinstimmend die befragten Zeitzeugen, dass die jüdischen Mitschüler und -schülerinnen, selbst Nebensitzer, ohne irgend ein Wort vorher oder nachher, eines Tages verschwunden seien. Teils durch Emigration der Familie, teils durch Verweis, zuerst von höheren Schulen, später auch von allen anderen, an die einzige jüdische Schule in Stuttgart.
Ein kleiner Versuch der Hilfe, die ein Schüler seinem halbjüdischen Freund zuteil werden ließ, sei erwähnt. Nachdem der Bub die Oberschule nicht mehr besuchen durfte, gab ihm sein Freund englischen Unterricht, regelmäßig vier Stunden in der Woche, mit dem Ziel, die Rückkehr in die gleiche Klasse zu ermöglichen, wenn der „Spuk“ vorbei sein werde. Jeder versteht, dass dazu nicht nur eine Bubenfreundschaft gehörte, sondern auch ein starkes Elternhaus, das in der Opposition klug war.
Erst jetzt bei den Interviews wurde mir der mutige Einsatz einer ganzen Familie Vater, Mutter und kleiner Tochter zur Kenntnis gegeben, mit dem diese Menschen über Wochen hin zwei Bedrohte im Gartenhaus in einem Verschlag hinter den Hasenställen versteckten, bis deren Flucht über die Grenze möglich war.
Auch Details für die helfende Fantasie der Menschen in der Opposition mögen einmal genannt und dankbar ausgedrückt sein. Das 12- 13jährige Mädchen brachte vor dem Schulgang Speise ins Gartenhaus „für die Hasen“ und holte auf dem Heimweg das leere Geschirr wieder ab. Manchmal kam das Kind zu spät zur Schule, weil es ja sorgfältig sein musste, denn Verdacht war schon auf die Familie gefallen. Ein Mitschüler, der denselben Schulweg hatte, wurde von seinem Vater, der Nazi war, zum Aufpasser bestellt. Der Vater des Mädchens und der Lehrer verständigten sich, so dass das Kind keinen Tadel mehr erfuhr, wenn es zu spät zum Unterricht kam. Dann und wann, vor allem nach einem Diktat entließ der Lehrer das Mädchen und behielt ihre Bücher bis zum anderen Tage bei sich in der Schule, so dass Platz für das Geschirr im Ranzen war und verordnete dem Knaben, der Fehler im Diktat wegen, ein Nachsitzen. Auf diese Weise kam das Mädchen unbeobachtet zum Gartenhaus und nach Hause. Schon waren solche Aktionen hochgefährlich und man musste wissen, wem man noch Vertrauen schenken konnte.
Eine andere Begebenheit, die in Ludwigsburg spielt, berichtet Julius Wissmann, damals Geschäftsführer des israelitischen Oberrates. Die notwendig gewordene Errichtung der israelitischen Schule forderte auch Sportunterricht und da jüdische Sportlehrer rar waren, mussten solche durch Kurse in den Jahren 1936/38 ausgebildet werden. Zur Prüfung und Anerkennung, die von staatlicher Seite durchgeführt wurden, gehörte auch Schwimmen. Kein Schwimmbad im Lande wollte die jüdischen Sportlehrer auch nur für eine Stunde einlassen. Schließlich wurde die Erlaubnis des Ludwigsburger Stadtbades erlangt. Als der Leiter der Schwimmhalle entdeckte, dass es sich bei den Prüflingen um Juden handelte, reklamierte er beim Prüfer, der aber trug nach dem Ankleiden das goldene Parteiabzeichen. Doch wurde der Vorgang höheren Orts gemeldet. Julius Wissmann wurde vorgeladen: „Wie ist das möglich gewesen?“ Er antwortete, er habe sich am Telefon gemeldet: „Hier spricht der Oberrechnungsrat vom israelischen Oberrat“ darauf habe der Hallenmeister zugesagt. Damals konnte dieser Ministerialrat mit dem Rechnungsrat noch lachen.29
Zur selben Zeit ereignete sich auch die folgende erschütternde Szene. Heinrich Kling berichtet in seinem Buch „Zeit mit Wunden“, dass er als Pimpf eines Tages mit dem ganzen Fähnlein30 zur Mathildenstraße marschiert sei. Dort hätten alle in Dreierreihen Aufstellung genommen und im Sprechchor vor dem Hause des Dr. Pintus geschrien: „Juda verrecke, schmeißt die Juden hinaus.“ Selbstverständlich ging der Bub weiterhin zu seinem Hausarzt Dr. Pintus zum Bestrahlen. Die Spannung in seinem Verhalten war dem Zwölfjährigen kaum bewusst.
Zu dieser Zeit, in der Nacht vom 1.zum 2. November 1937 wurden an der Synagoge 15 große Bleiglasfenster mit 86 Scheiben eingeschlagen. Die Bitte des Vorsteheramtes an die Stadt, zu prüfen, ob sie nicht Haftpflicht anerkennen würde, wurde mit dem lapidaren Satz beschieden: „Die Anerkennung einer Haftpflicht kommt nicht in Frage“.31 Das alles war noch vor November 1938.Zerstörung der Ludwigsburger Synagoge am 10. November 1938 – die herabgestürzten Gesetzestafeln von der Synagogenfassade als Sinnbild für den Niedergang menschlichen Verhaltens in Nazi-Deutschland.
So vorbereitet kam dann der grauenhafte Tag. Das Attentat auf den Legationsrat von Rath durch den jugendlichen Juden Herschel Grynszpan (Grünspan) in Paris am 7. November diente als Anlass, die schon längst geplante öffentliche Aktion gegen die Juden und die Synagoge durchzuführen.32 Im Unterschied zu den meisten Brandstiftungen und Zerstörungen von Synagogen die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 vorgenommen wurden, ist dies in Ludwigsburg erst am frühen Nachmittag des 10. November geschehen. Der Grund dafür wird in dem Polizeivernehmungsprotokoll vom 21. Dezember 1946 so angegeben: Die fernmündliche Rundmeldung, die Synagogen anzuzünden, hat Ludwigsburg nicht erreicht, weil der betreffende Parteigenosse zu bequem war, nachts ans Telefon zu gehen.33
Darum musste das Versäumte am Tage nachgeholt werden. Es ging alles sehr hastig. SA, Sicherheitsdienst und Hitler-Jugend mussten alarmiert werden. Die Dienststellen waren zum Teil nicht besetzt, man nimmt an, weil die Betreffenden nach Freudental gefahren waren (wo die Synagoge auch erst am 10. November ausgeraubt wurde). Benzin musste beschafft werden. Erst um 13.00 Uhr begann die Brandschatzung, Bücher und Kleider wurden aus der Synagoge heraus, später auch wieder zurück ins Feuer geworfen. Um 13.30 Uhr schlugen die Flammen aus dem Gebäude. Um 13.35 Uhr wurde die Feuerwehr alarmiert. Bald hatte sich eine große Zahl von Menschen angesammelt, die stumm dabei stand. Ich habe mit manchen Augenzeugen gesprochen. Sie bezeichneten die Stimmung mit lähmendem Entsetzen. Flüstern „das ist nicht gut“ oder „wir werden das büßen müssen“ und Ähnliches wurde gehört.
Zugleich war da die Angst, ob jemand mitgehört haben könnte. Es gab aber auch die Haltung gleichgültigen Interesses. Als die Feuerwehr eintraf, beschränkte sie sich darauf, die Nachbarhäuser zu schützen. Beifallklatschen einiger kam auf, als die Zehn-Gebote-Tafeln vom Giebel der Synagoge gestoßen wurden.
Burschen spielten mit den herausgeworfenen Zylindern und Kultgegenständen Fußball auf der Straße. Dann auch der Ruf: „Auf zum Grumach“, einem Kaufhaus Ecke Wilhelm-/Kirchstraße. Auch wenn ich dies nicht zu hoch einschätzen will, ist doch bemerkenswert der überlieferte Satz eines Beteiligten „Jetzt geht‘s in Einem hin, jetzt zünden wir auch die katholische Kirche gleich an“.34 Erst in der Nacht zum 11. November, nachdem Goebbels am Tage zuvor die Aktion als ausreichend schon gestoppt hatte, wurden in Ludwigsburg Schaufenster eingeschlagen und Geschäfte geplündert, vor allem die der Firmen Grumach, Wohlwert und Stern.
Es kommt in der Nacht zu Massenverhaftungen. Selbst der greise Max Elsas wird eingesperrt. Er wird zwei Tage später wieder freigelassen. Viele der Inhaftierten werden nach Welzheim und später nach Dachau verschleppt. Dr. Pintus hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach schon auf dem Weg ins KZ das Leben genommen. Er hatte sich, nach einer Andeutung einem Freund gegenüber, für diesen Fall versehen35.
Der Technische Notdienst hat die Ruine der Synagoge bis in der Zeit zum 15. November „wegen Einsturzgefahr“ gesprengt. Steine der Synagoge wurden zum Gefängnis gebracht, um damit dort die Mauern zu erhöhen.36 Der Zynismus war auf die Spitze getrieben mit dem Satz in der Zeitung „Das Grundstück wird in den Besitz der Stadt übergehen. Wie wir hörten, besteht die Absicht, dort einen Parkplatz einzurichten, womit man sicher einem dringenden Bedürfnis entgegenkommen würde.“ (Ludwigsburger Zeitung 11. November1938). Die Juden des Reiches mussten eine Milliarde Mark als Schadenersatz für diese Nacht bezahlen, ihre zerstörten Geschäfte und Einrichtungen wieder herrichten lassen, wobei die allfälligen Ersätze durch Versicherungen direkt dem Staat auszuzahlen waren.
Nach der Zerstörung der Synagoge beantragte der israelitische Religionslehrer Metzger im Haus Seestraße 75 Gottesdienste abhalten zu dürfen. Mit dem Begriff „Reichskristallnacht“ wurden bald danach und werden noch heute diese Ereignisse oft bezeichnet. Es ist zu vermuten, dass diese den damaligen amtlichen Sprachgebrauch nachahmende Formel vom Volksmund wegen des zerschlagenen Kristalllüsters eines Berliner Kaufhauses gefunden wurde, als Versuch mit sarkastischer Ironie das Geschehen zu verharmlosen oder dem wortlosmachenden Entsetzen einen damals eben noch möglichen Ausdruck zu geben.
Was ist geschehen in jener Nacht – in Ludwigsburg einen halben Tag später, weil einer verschlafen hat–? Mit dem Absturz der Gebotstafeln vom Giebel der Synagoge ist Recht und Ordnung, Gesetz und Verlässlichkeit, Treue und Liebe abgestürzt bis zum vollkommenen Zerbruch, und die Mauern der Gefängnisse wurden hoch, nicht nur für die Juden im Lande. Von da an spätestens saß jedem die Angst im Nacken und jeder konnte erkennen, dass der Umgang miteinander nicht mehr von geltendem, anrufbarem Recht geborgen war. Gefährdet war das freie Wort.
Stück um Stück wurde den Juden Recht genommen. Ausgangsbeschränkungen für Juden wurden eingeführt. Nur Mutige verkauften noch Lebensmittel an Juden, wie jener Metzgermeister, der hinter dem Laden im Gang unerschrocken weiterhin an Juden seine Ware abgab. Als die Familienangehörigen ihn baten, damit doch aufzuhören, denn, so sagten sie, „Du gefährdest uns alle“, antwortete er: „Wenn’s rauskommt, schiebt alles auf mich“. Andere wurden mit dem Plakat „Judenknecht“ durch die Stadt getrieben, weil sie nicht aufhören wollten, Kontakte zu Juden zu halten und sie wie Menschen zu behandeln. Und kaum wagte man, die Juden noch zu grüßen oder gar ihnen öffentlich die Hand zu geben, selbst unter alten Nachbarn Freunden nicht.
Da war die junge Frau, die zum Abschiedsbesuch die befreundete Frau Pintus in ihr Hause einließ und dafür nicht ins Beamtenverhältnis übernommen wurde. 1941 konnte die Witwe von Dr. Pintus mit einer Kuriermaschine der Firma Bosch, die immer wieder bedrängte Menschen ausflog, nach Spanien und Südamerika gelangen37. 146 jüdische Bürger konnten emigrieren.
Inzwischen trat die Bedrängnis auf den Höhepunkt. Es geschah, wie mir berichtet wurde, dass Max Elsas freundlich grüßend in ein Ladengeschäft gekommen war, aber nicht beachtet und auch nicht bedient wurde und dann unverrichteter Dinge den Laden wieder verlassen musste. Der Schlusspunkt ist dann wohl gewesen, dass die Wirtin des Lokals, in dem Max Elsas gerne ein Viertele trank, ihm eines Tages unter Tränen sagen musste: „Herr Elsas, sie dürfet nemme komme“. Auch dieser hochverdiente Mann hat sein „Haus der Ewigkeit“ nicht in unserer Stadt erhalten dürfen.38
52 jüdische Bürger wurden deportiert, vier überlebten diese Not. Acht jüdische Personen in sogenannten „privilegierten Ehen“, das heißt mit einem Arier verheiratet, konnten ihr Leben behalten. Es kann nach all dem nicht angenommen werden, dass es in unserer Stadt damals auch nur einen Menschen mit klaren Sinnen gegeben hätte, der von diesen Vorgängen nichts gemerkt hat.
50 Jahre seit dem Absturz der Gebotstafeln sind vergangen und 284 Jahre Geschichte dieser Stadt mit ihren Juden. So sind wir dankbar, dass heute israelitische Persönlichkeiten zu Gast bei uns sind. Möge es nicht nur an diesem bedrückenden Tag so sein, sondern auch zu schönen Anlässen.
Wir danken, dass es solche Menschen, von denen wir gesprochen haben, deren Namen wir nannten und die wir nicht mit Namen nennen konnten, in unserer Stadt gelebt haben. Sie waren Gewinn, sie suchten das Beste für unser Gemeinwesen in vieler Hinsicht. Und wir sind traurig, dass wir nur in Vergangenheit von ihnen sprechen können.
Trauer kennt Stufen oder Phasen, die der Trauernde durchschreiten muss. Oft ist da zuerst das Nichtwahrhabenwollen, das Verdrängen des Geschehenen. Wenn es sich aber zeigt, dass dies kein Weg zu gehen ist und die Wahrheit stärker bleibt, kann der Zorn aufkommen: Warum mussten wir das tun? Warum haben wir die Bitte um Heimat, von den Juden jahrhundertelang vorgetragen und vorgelebt, nicht erfüllt? Und Ohnmacht kann sich anschließen: Was kann und konnte ich tun – ich kleiner Mensch damals? Und die Jüngeren waren ja noch gar nicht dabei, wie sollen sie Verantwortung tragen und mittragen? Und schließlich kann sich das „Ja“ einstellen: So ist es, so war es!
Was kann ich jetzt tun? Keiner, ob Alt oder Jung, ist entlassen aus der Pflicht der Erinnerung. Wie können wir dem moralischen Anspruch, den jene Frauen und Männer haben und auf Söhne und Töchter als ihre Erben weitergegeben haben, entsprechen? Wie kann mich das Ja dieser Trauer weiterführen in der Verantwortung dafür, dass solches künftig noch nicht einmal mehr gedacht werde? Wie kann mich das Ja unter der Trauer weitergehen lassen?
Niemand und nichts nimmt uns das so Geschehene jemals ab. Hilfreich fand ich dafür den mutigen, dem Trauernden Trost schenkenden Gedanken, den die Israeliten im Blick auf ihren Sabbat haben: Sie wissen, Sabbat ist Freude - Freude am Wort und Gesetz, das Gott seinem Volk gegeben hat und Freude mit den Menschen, die der Herr um sie stellt. Diese Freude ist für sie so groß, dass das Zeichen der Trauer, selbst um einen geliebten Menschen, das schwarze Band am Gebetsmantel, im Trauerjahr, während des Sabbats verborgen wird. Wenn wir einem Sabbat gleich Verantwortung für die Beachtung des Wortes und der Gebote Gottes übernehmen, wenn wir die herabgeworfenen Gebotstafeln wieder aufrichten und die trennenden Mauern abbrechen, wenn wir dem Recht und allen Menschen Achtung und Würde schenken, mag es erlaubt sein, kann es gar hilfreich verordnet sein, die Zeichen der Trauer, wie am Sabbat, zu verbergen.
Dass Trost und Zuspruch uns allen geschenkt werde durch das mahnende und heilende Wort des einen Gottes. In diesem Sinne nehmen Sie es bitte an, wenn ich spreche, wie die vom Sabbat-Gottesdienst Heimkehrenden:
Schabbat schalom!
Anmerkungen
1 Tänzer, Aaron: Die Geschichte der Juden in Württemberg. Nachdruck der Ausgabe 1937. Frankfurt/M. 1983. S. 4.
2 Vergl. „Hoffaktoren“ in: Brackhaus Enzyklopädie. 1969.
3 Belschner, Christian: Ludwigsburg im Wechsel der Zeiten. Von Walter Hudelmaier neu bearb. und bis zur Gegenwart erw. 3. Aufl. Ludwigsburg 1969. S. 120.
4 Schmäh, Hans: Ludwigsburger Manufakturen im 18. Jahrhundert. In : Ludwigsburger Geschichtsblätter 15/1978. S. 36f.
5 Stuttgarter Zeitung. Sonntagsbeilage vom 6. 2. 1988.
6 Sauer, Paul: Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Stuttgart 1966. S. 121; In der Ortschronik von Aldingen S. 158 wird mitgeteilt: Wann die Juden sich hier ansässig gemacht haben und als sogenannte Schätzjuden (cfr. W.K.u.L.A. s. 853) ihren rechtlichen Wohnsitz und Unterhalt hier fanden, lässt sich nicht genau angeben. Wenn aber 1751 vor allzu familiärem Umgang mit Juden gewarnt werden muss (im Kirchenzensurbuch), so waren sie jedenfalls um diese Zeit schon in einiger Anzahl hier und man hat ihnen offenbar das Leben nicht sauer gemacht.
7 Sauer, a.a.O., S. 1 05.
8 Ortschronik von Aldingen. S. 160f.
9 Der Sabbath-Weg ist die Strecke, die ein Jude am Sabbat spazierengehend zurücklegen darf. 2 Mose 16, 29 ist bestimmt: „Sehet, der Herr hat euch den Sabbat gegeben; darum gibt er euch am sechsten Tag für zwei Tage Brot (Manna wäh rend der Wüstenwanderung). So bleibe nun ein jeder, wo er ist, und niemand verlasse seinen Wohnsitz am siebten Tage.“ Mit dieser Ordnung noch vereinbar ist nach der Mischna eine Wegstrecke von 2000 Ellen. Später wurde diese Wegstrecke als ca. 2 km von der Stadtgrenze aus bestimmt. Nach Aldingen sind es vom Schorndorfer Tor aus ca. 4 Kilometer.
10 Tänzer, a.a.O. S. 10.
11 Tänzer, a.a.O., S. 11 f.
12 Tänzer, a.a.O. S. 25-26.
13 Tänzer, a.a.O. S. 30-37.
14 Tänzer, a.a.O. S. 94-95.
15 Tänzer, a.a.O. S. 102- 104.
16 Tänzer, a.a.O. S. 127.
17 Belschner/Hudelmaier a.a.O. S. 120.
18 Tänzer, a.a.O. S. 56.
19 Dicker, Hermann: Aus Württembergs jüdischer Vergangenheit und Gegenwart. Gerlingen 1984. S. 77.
20 Schüßler, Beate Maria: Das Schicksal der jüdischen Bürger von Ludwigsburg während der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung. In: Ludwigsburger Geschichtsblätter 30/1978. S. 79.
21 Dicker, a.a.O. S. 26.
22 Tänzer, a.a.O. S. 11 6.
23 Schüßler, a.a.O. S. 27.
24 Jubiläumsschrift zu 50-jährigen Bestehen des Schwimmverein Ludwigsburg 08 e.V. 1958. S. 20, 29, 40.
25 Schüßler, a.a.O. S. 41.
26 Schüßler, a.a.O. S. 33.
27 Sauer, a.a.O. S. 123.
28 Schüßler, a.a.O. S. 48ft.
29 Sauer, a.a.O. S. 211.
30 Fähnlein war die Bezeichnung einer Einheit der „Deutschen Jugend“ (DJ), in der 10- bis14jährige Glieder der Hitlerjugend organisiert waren. Ein Fähnlein hatte die Stärke von 60 bis 100 Pimpfen.
31 Schüßler, a.a.O. S. 43ft.
32 Es ist heute bekannt, dass schon vor dem 9. November 1938 einzelne Synagogen im Reich geschändet wurden, wohl als Test auf das Verhalten der Bevölkerung.
33 Stadtarchiv Ludwigsburg: Polizeivernehmungsprotokoll vom 21. Dez. 1946. S. 6f.
34 Stadtarchiv Ludwigsburg, a.a.O. S. 11 f.
35 Hans Wertheimer, der auf Einladung der Stadt aus den USA zum Festakt gekommen war, berichtete, er sei am 13. November 1938 mit anderen Juden im KZ Dachau angekommen, dort habe er Dr. Pintus hinkend aus dem Zug aussteigen sehen. Dr. Pintus sei am Ende der Kolonne gegangen und dabei zurückgeblieben. Später habe er ihn nicht mehr gesehen. Eine weitere Information geht dahin: Ein damaliger Wachmann habe sich gebrüstet, Dr. Pintus erschlagen oder erschossen zu haben. Der Todestag war der 13. 11. 1938.
36 Wilhelm Künzler berichtet, dass er seinerzeit als politischer Häftling im alten Zellenbau, in der Zelle Nr. 102 gelegen und von dort aus die Arbeiten an die Mauer, der mit Steinen von der Synagoge erhöht worden sei, beobachtet habe. Unterlagen bezüglich dieser Bauarbeiten sind bei der Verwaltung der Strafvollzugsanstalt Ludwigsburg nicht mehr vorhanden.
37 Es wird berichtet, dass die wegen ihrer Unerschrockenheit bekannt gewordene Ärztin Dr. Welsch Frau Helene Pintus, Ehefrau des Dr. Walter Pintus, als dieser verhaftet worden war, umfängliche Bandage und Verbände angelegt und sie für transportunfähig erklärt habe.
38 Im Neuen Israelischen Friedhof von Ludwigsburg ist der Name Max Elsas auf dem Grabstein seiner Frau aufgezeichnet.2013 wiederholte Albert Sting den Vortrag in aktualisierter Form im Raum des Kunstvereins im „MIK“ inmitten einer Ausstellung des chinesischen Papier-Künstlers Li Hongbo. Der Vortrag war Teil des umfangreichen Programms zur Finanzierung des geforderten Bürgerschafts-Anteils an den Renovierungskosten für den Synagogenplatz.